© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 39/20 / 18. September 2020

„Nicht tatenlos zusehen“
Geopolitik: Deutsche Sanktionen gegen die Erdgaspipeline Nord Stream 2 könnten Milliarden Euro kosten
Albrecht Rothacher

Im Dezember 2019 verabschiedete der US-Senat auf Betreiben der „Regime Change“-Befürworterin Jeanne Shaheen sowie des Republikaners und Öl/Gas-Lobbisten Ted Cruz den Protecting Europe’s Energy Security Act (Peesa). Das sei die „überparteiliche Botschaft“ an Wladimir Putin, daß die USA „nicht tatenlos zusehen werden, während der Kreml versucht, seinen bösartigen Einfluß weiter zu verbreiten“, erklärte die Demokratin aus New Hampshire. Das US-Gesetz „zum Schutz von Europas Energiesicherheit“ sieht Sanktionen gegen die Verlegefirmen der Erdgasleitungen Nord Stream 2 und Turkstream (Türk Akimi) vor.

Dennoch eröffneten die Präsidenten Recep Tayyip Erdogan und Putin im Januar den durch das Schwarze Meer verlaufenden Turkstream-Teil von Südrußland in die Westtürkei. Von hier aus soll auch Südosteuropa mit Gas versorgt werden. Bei Nord Stream 2 hatten die USA mehr Erfolg: 160 Kilometer fehlen noch bis zur Fertigstellung der 1.250 Kilometer langen Parallelleitung von Nord Stream 1 von Karelien bis Greifswald, wo Anschlußpipelines bis nach Böhmen, Süddeutschland und Österreich sowie nach Westdeutschland bereitstehen.

US-Einreisesperre und Vermögensbeschlagnahmung

Anfang August legte der texanische Republikaner Cruz mit seinem Parteifreund Tom Cotton aus dem Öl- und Erdgasstaat Arkansas noch mal nach: Sie drohten exemplarisch auch Geschäftsführung und Anteilseignern des Fährhafens Saßnitz-Mukran auf Rügen sowie deren Geschäftspartnern mit wirtschaftlichen und finanziellen Sanktionen – inklusive US-Einreisesperre und Beschlagnahmung von Vermögen, das in US-Gerichtsbarkeit komme. Begründung: Von dem Hafen gingen Rohrverlegungsaktivitäten aus. Doch soweit kommt es vielleicht gar nicht, denn am 20. August wurde der russische Oppositionspolitiker Alexej Nawalny Opfer eines Giftanschlages – und eigene europäische Sanktionen gegen Nord Stream 2 könnten nun folgen.

Doch ein „Nawalny-Gesetz“ wäre juristisches Neuland. Das Nord-Stream-2-Projekt hat aufwendige Genehmigungsverfahren und Umweltverträglichkeitsprüfungen durchlaufen. Die Genehmigungen durch das Bergamt Stralsund und das Bundesamt für Seeschiffahrt sind gültig. Alle Konsortiumspartner von der russischen Gazprom über Wintershall/BASF und Uniper/Eon bis zu österreichischen, französischen und britisch-niederländischen Firmen könnten die Bundesregierung auf Schadensersatz der bisher geleisteten Investitionskosten von 9,5 Milliarden Euro wegen des Bruchs der Vertragstreue verklagen. Hinzu kommen noch die Aufträge bis zur endgültigen Fertigstellung der Pipeline an 120 Unternehmen aus zwölf europäischen Ländern, warnt Oliver Hermes, Chef der Dortmunder Wilo-Gruppe und Leiter des Ost-Ausschusses der Deutschen Wirtschaft.

Auch das gegen deutschen Widerstand veränderte EU-Energierecht („Lex Gazprom“) verlangt bei Pipelines aus Drittstaaten nur, daß die Hälfte des gelieferten Gases von einem Wettbewerber des Betreibers stammen muß. Dabei kommen bei Nord Stream 1 und 2 nur die staatliche Rosneft und die private Nowatek in Frage. Das Gazprom-Exportmonopol ist also geknackt. Wirtschaftlich würde sich Deutschland von 55 Milliarden Kubikmetern russischen Pipelinegases jährlich abschneiden. Das von den USA angebotene Flüssiggas (LNG) ist teurer sowie aufwendiger bei Transport und Einspeisung. Die europäischen LNG-Terminals befinden sich fast alle an der Mittelmeerküste und noch kein einziger an der deutschen Nordseeküste. Das „Lech-Kaczynski-Terminal“ in Swinemünde ist mit einer Maximalkapazität von 7,5 Milliarden Kubikmetern zu klein. Und die US-Frackingfirmen verkaufen ihr Gas bislang lieber nach Japan, Südkorea und Taiwan, wo die Preise mangels Pipelines viel höher sind.

Atom- und Kohleausstieg erhöhen den Erdgasbedarf

Einsparen und die Diversifizierung von Energieträgern und -lieferanten sind erstrebenswerte Ziele für die nationale Sicherheit. Doch wegen des Atom- und Kohleausstiegs braucht Deutschland mehr Gas für Kraftwerke – bei gleichzeitiger Erschöpfung der niederländischen Gasfelder. Bei Pipelinegas ist die Abhängigkeit zudem gegenseitig: Die Produktion kann nicht wie beim Öl einfach gedrosselt werden. Wenn die unterirdischen Tanks voll sind, muß abgefackelt – mit entsprechendem CO2-Ausstoß, nur ohne Energiegewinnung. Etwa 60 Prozent des russischen Staatshaushaltes werden von Öl- und Gasexporten gespeist. Damit subventioniert Putin Industrie und Haushalte, aber zugleich werden die Aufrüstung, Kleinkriege und teure Prestigeprojekte finanziert.

Bei einem Weltölpreis von unter 40 Dollar pro Faß wird der Moskauer Spielraum knapp. Doch auch die US-Förderer, für die sich Cruz & Co. einsetzen, leiden unter Niedrigpreisen – da käme der Teilausfall eines Lieferanten recht. Doch das Sanktions-Thema ist kompliziert: Nach dem Georgienkrieg von 2008 ging der Westen wieder schnell zur Tagesordnung. Erst nach der Krim-Annexion von 2014 beschlossen die EU, die USA, Kanada und Norwegen eine noch immer unveränderte Sanktionenliste: Einreisesprerren und Vermögenseinfrierungen für ein paar Dutzend russische Führungsfiguren oder Exportembargos für Rüstungsgüter und Ölfördertechniken in Tiefseegebieten. Hinzu kommen diverse Finanzrestriktionen für Staatsbanken und der Ausschluß Rußlands aus den G8-Gipfeltreffen.

Die Sanktionsbefürworter glauben, das habe weitere russische Aggressionen – etwa die Annexion Weißrußlands – verhindert. Andererseits aber ist die EU-Rußlandpolitik in eine tiefe Sackgasse geraten und zur Geisel der Beziehungen Kiew-Moskau geworden. Die russischen Gegensanktionen, die sechs Milliarden Euro an EU-Agrarimporten jährlich betreffen, schädigen die hiesigen Bauern. Die extraterritorialen US-Sanktionen gegen Nord Stream 2 treffen nun alle Firmen, die Material, Finanzen oder Dienstleistungen zu dem Projekt beisteuern. Sie müssen zwischen ihrem US- und ihrem Rußlandgeschäft abwägen – und das brachte den großen Zeitverlust bei der Pipeline-Fertigstellung. Wegen des Mordanschlags auf Nawalny droht eine weitere Verzögerung oder sogar das komplette Aus – was Grüne, ein Teil der CDU, Polen und die Amerikaner ohnehin wollen.

Doch auch nach sechs Jahren Rußlandsanktionen bleibt die Rückgabe der Krim illusorisch, und der Frieden im Donbass ist weiter unerreicht. Gleichzeitig hat Rußland seine Autarkiepolitik verstärkt, es setzt vermehrt auf Eigenentwicklungen in der Rüstungs- und Öltechnologie sowie auf China-Importe – mit weiteren Auswirkungen auf deutsche Firmen: Wird Rußland künftig weiter ICEs kaufen, wenn es befürchten muß, daß Siemens eines Tages aus Furcht vor US-Sanktionen die nötigen Ersatzteile und Serviceleistungen nicht mehr bereitstellen kann?

„50 Jahre Röhren gegen Erdgas – deutsch-russisches Jahrhundertgeschäft und deutsch-amerikanischer Wirtschaftskrimi“:

 www.oaoev.de/

 www.state.gov/

 www.nord-stream2.com/