© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 39/20 / 18. September 2020

Bier, Blut und Zeitgeist
Werbung für die Mediathek: Mit „Oktoberfest 1900“ knüpft die ARD an andere Historien-Serien an
Gil Barkei

Das Oktoberfest fällt dieses Jahr Corona-bedingt aus. Stattdessen findet eine „WirtshausWiesn“ in den Gaststätten Münchens statt. Damit wollen die Organisatoren, der Verein der Münchner Innenstadtwirte und die Großen Wiesnwirte, notgedrungen an eine alte Tradition anknüpfen: Beim ersten Oktoberfest 1810 trafen sich die Trink- und Feierfreudigen nicht auf der Theresienwiese, sondern in den umliegenden Wirtshäusern der festlich geschmückten Stadt. 

Zurück in die Wiesn-Geschichte zu anderen vermeintlichen Wegmarken geht auch die ARD mit ihrem diese Woche angelaufenen Sechsteiler „Oktoberfest 1900“. Die Produktion, an der ARD Degeto, WDR und MDR unter der Federführung des BR beteiligt waren, erzählt den Kampf mehrerer Bierdynastien um das große Geschäft auf dem Volksfest. Der Nürnberger Großbrauer und Gastronom Curt Prank (Mišel Maticevic) will die Privilegien der Münchner Brauereien einreißen und als fränkischer Auswärtiger auf dem Oktoberfest eine „Bierburg“ errichten, die mit 6.000 Plätzen 20mal so groß ist wie die Bierbuden der Konkurrenz: „Ich will das Oktoberfest neu erfinden!“ Für das große Vorhaben muß er sich jedoch zunächst fünf, seit Generationen verpachtete Budenplätze sichern – und greift dafür zu unlauteren Methoden bis hin zu Erpressung und Mord.

Beeindruckende Ausstattung 

Bayerische Brauerei-Clans mit Mafiamanieren: das geht einigen heutigen Wiesn-Wirten zu weit. „Auch wenn es eine fiktive Darstellung sein soll, ist diese negative Darstellung schlimm“, kritisierte Festwirt Christian Schottenhamel das ARD-Machwerk in der Bild-Zeitung. „Unsere Gäste werden denken: Das ist heute auch so.“ Und der Münchner Wirtschaftsreferent und städtische Wiesnchef Clemens Baumgärtner (CSU) will sogar prüfen lassen, ob es den angeblichen „Wirte-Krieg“, der 1898 stattgefunden und die Serie inspiriert haben soll, wirklich gegeben hat. „Ein Oktoberfest nur auf ein machtbesessenes Milieu zurückzudrehen, um Publikum zu generieren, ist total daneben. Es hat mit der Wirklichkeit nichts zu tun“, stellt er gegenüber Bild klar.

Beeindruckender als die mutmaßlichen „wahren Begebenheiten“ sind dagegen Ausstattung und Technik von den Kostümen, über die Requisiten bis zu den Kulissen und Effekten. Hier knüpfen die Filmemacher um Regisseur Hannu Salonen und Kameramann Felix Cramer an die opulente Gestaltung anderer Historien-Produktionen wie „Babylon Berlin“ (JF 6/20) oder „Das Boot“ (JF 3/20) an. 

Wie bei diesen Mehrteilern können die Verantwortlichen des Oktoberfest-Spektakels es sich nicht verkneifen, den heutigen Zeitgeist in die Handlung von vor 120 Jahren zu pressen. Wenn es plötzlich um schwule Künstler im Thomas Mannschen Dunstkreis, Powerfrauen im Kampf gegen Geschlechterrollen und schlechte Bezahlung oder um an der Isar kampierende, ausgebeutete Samoaner einer Völkerschau geht, wirkt der Plot zwanghaft konstruiert – und kann auch von der hochkarätigen Schauspielermannschaft von Martina Gedeck bis Francis Fulton-Smith nicht aufgefangen werden. Das Sittengemälde des Jahres 1900 läßt so an einigen Stellen auch die Haltungssitten 2020 plump durchschimmern.

Abseits der Handlung ist das Eventformat vor allem ein riesiger Marketingcoup der Öffentlich-Rechtlichen. Die Miniserie verdeutlicht das Vorhaben, im Kampf um junge Altersgruppen die ARD-Mediathek als ernste Konkurrenz zu Streamingdiensten zu etablieren (JF 50/19). So waren die Folgen von „Oktoberfest 1900“ bereits ab dem 8. September in der generalüberholten Mediathek abrufbar; eine Woche vor der TV-Ausstrahlung der ersten zwei Episoden, flankiert von gezielter Werbung für beide Ausspielmöglichkeiten und einem bei Facebook live gestreamten „Filmtalk“ mit den Darstellern kurz vor der Online-Freischaltung. 

Der Zuschauer müsse „an der Röhre, auf der Leinwand, an seinem Computer, an seinem Handy“ emotional gepackt werden, betonen die Produzenten Michael Souvignier und Till Derenbach im interaktiven Bonusmaterial, das mit einer Dokumentation zum Fernsehstart abgerundet wurde. Ironie der Geschichte: die internationalen Rechte der Serie hat ausgerechnet Netflix erworben. Ab dem 1. Oktober soll der Stoff dort in neun Sprachen unter dem vielleicht besser passenden Titel „Oktoberfest: Beer & Blood“ laufen.

„Oktoberfest 1900“: Sechs Episoden in Doppelfolgen. Teil 5 und 6 laufen am Mittwoch, den 23. September ab 20.15 Uhr im Ersten. Alle Folgen sind in der ARD-Mediathek abrufbar.