© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 39/20 / 18. September 2020

Die hungrige Nation
Vor 150 Jahren vollzog Italien mit der Eroberung Roms die Vereinigung des Landes
Marco F. Gallina

Der 20. September beherrscht die Straßen Italiens. Kaum eine größere Stadt, die nicht eine Allee oder einen Boulevard besitzt, der als „Via XX Settembre“ die Wohnzeilen des 19. Jahrhunderts durchzieht. Hinter dem kryptischen Datum steckt eine Wegmarke italienischer Geschichte. Am 20. September 1870 stürmten italienische Truppen die Ewige Stadt. Mit der „Presa di Roma“, der Einnahme Roms, erfüllt sich ein Sehnsuchtsmoment der italienischen Nationalromantik. 

Die Gründerväter des Nationalstaates wußten, warum nicht der Geburtstag des Königreichs Italien am 17. März 1861, sondern die Bresche bei der Porta Pia die Erinnerungskultur bestimmen sollte. Denn Rom war nicht nur das Ziel des Risorgimento, der „Wiederaufrichtung“ des italienischen Vaterlandes. Rom war bis dahin die Stadt der Päpste. Gegen eine Macht, die Italien seit einem Jahrtausend beherrschte, mußte das frisch geschlüpfte Königreich propagandistisch zu Felde ziehen; vor allem, weil der eigentliche Eigentümer Pius IX. und seine Nachfolger dem freimaurerisch-laizistischen geprägten Königreich jahrzehntelang grollten.

Frankreich als Garant des päpstlichen Kirchenstaates

Dabei war das Datum weder der Beginn des italienischen Staates noch das Ende des Risorgimento. Fünfzehn Jahre bevor General Raffaele Cadorna die Aurelianische Mauer mit Kanonendonner beschallte, plante Camillo Benso von Cavour die Einheit der Halbinsel. Als Ministerpräsident des Königreichs Sardinien-Piemont stand er der Regierung des modernsten und militärisch führenden italienischen Staates vor. Nach dem Krimkrieg hatte sich Österreich international isoliert, da es keiner der Kriegsparteien zur Hilfe kam; weder dem alten Verbündeten Rußland noch den Westmächten Frankreich und Großbritannien. Sardinien hatte dagegen ein Expeditionskorps von rund 20.000 Soldaten geschickt und sich internationales Renommee erworben. Turin spekulierte darauf, daß die „italienische Frage“ damit wieder auf die Agenda der europäischen Mächte gesetzt würde. Mit französischer Hilfe rückte die Eroberung des von Österreich dominierten Nord-italiens in greifbare Nähe.

Doch Cavour mußte vorher eine Kröte schlucken. Napoleon III., der französische Kaiser, verlangte für seine Hilfe Kompensationen. Im Vertrag von Plombières sicherte Cavour ihm die Abtretung Nizzas und Savoyens zu. Am Anfang der italienischen Einigung stand der Verzicht; ein Verzicht, der ausgerechnet die Stammlande der sardischen Königsdynastie und eine durchweg italienische Hafenstadt betraf. Auf preußische Verhältnisse übertragen hätte Bismarck Ostpreußen und Danzig abtreten müssen, um mit ausländischer Hilfe Deutschland zu einigen. Doch verglichen mit Preußen war Sardinien demographisch und industriell nur eine europäische Sekundärmacht. Cavour spekulierte nach dem Sieg auf einen Machtzuwachs, der Sardinien in eine bessere Position rückte; Napoleon III. dagegen hoffte, daß das neue, norditalienische Königreich langfristig in die französische Einflußsphäre gebunden werden könnte. 

Der italienische Unabhängigkeitskrieg von 1859 verlief dann so überraschend, daß dem Kaiser die Zügel aus der Hand zu gleiten drohten: nach den österreichischen Niederlagen von San Martino und Solferino wurden die habsburgischen Dynastien in der Toskana und in Modena entmachtet, in Bologna vertrieben Revolutionäre die päpstlichen Autoritäten, in Parma die Bourbonen. Napoleon III. zwang Sardinien dazu, den Krieg zu beenden und sich mit der Lombardei zu begnügen. Die anberaumte Einhegung des großsardischen Königreichs mißlang, als Giuseppe Garibaldi mit tausend Freiwilligen nach Sizilien übersetzte und das Königreich beider Sizilien eroberte. Der sardische König Vittorio Emanuele II. marschierte zugleich in den Kirchenstaat ein und annektierte die Adriaprovinzen, um eine Landbrücke zu den neuen süditalienischen Besitzungen zu errichten. In nur zwei Jahren war der italienische Stiefel zu einer sardisch dominierten Halbinsel geworden.

Schlacht von Sedan machte den Weg nach Rom frei

Das Einlenken Napoleons III. wertete die italienische Nationalbewegung als Verrat. Frankreich erwies sich zudem als Blockade: denn das französische Empire galt als Garant eines unabhängigen Kirchenstaates. Die genuine Hauptstadt eines italienischen Königreichs konnte jedoch nur Rom sein. „Rom oder Tod!“ skandierte Garibaldi, der allein – und erfolglos – einen Waffengang unternahm. Nach seiner Vereidigung als erster Ministerpräsident Italiens erklärte Cavour nur acht Tage nach Gründung des Königreichs gegenüber dem Parlament, daß Rom Hauptstadt werden müsse. Der französische Kaiser wandelte sich vom Befreier zur Haßfigur der Karikaturisten. Die Hoffnungen ruhten nun auf einem anderen Gegner Österreichs: Preußen. Im Krieg von 1866 erhielt Italien Venetien und das Friaul. Ein Vorstoß Garibaldis hinein ins Trentino wurde vom König per Telegramm abgebrochen. „Obbedisco“ (Ich gehorche) lautete die historische Antwort. Trient, Triest und Istrien blieben „unerlöste Gebiete“.

Ähnlich wie Königgrätz den Italienern die Einnahme Venetiens ermöglichte, machte Sedan den Weg nach Rom frei. Die französische Garnison, die Rom schützte, wurde im Deutsch-Französischen Krieg abgezogen. Die anti-klerikale Nachfolgeregierung in Paris kümmerte sich nicht um die Zukunft des Heiligen Stuhls. Die Einnahme Roms war ein Schaustück: Papst Pius IX. wollte ein Zeichen setzen, daß er Widerstand leistete, aber angesichts der ausweglosen Lage kein Blutbad verantworten. Der Kampf in der Bresche der Porta Pia forderte nur 47 Todesopfer. 

Die Einnahme Roms beendete die heiße Phase der Unabhängigkeitskriege, jedoch nicht das Risorgimento als solches. Der gebürtige Nizzarde Garibaldi versuchte ein Jahr später mit einem Volksaufstand die Heimat in das Königreich zu integrieren. Die italienischsprachigen Territorien in Österreich blieben eine fortwährende Belastung für das Verhältnis zwischen Rom und Wien. Das Risorgimento war nun nicht mehr Sache von Freischärlern, sondern des Staates. 

Die Konsolidierung des Königreichs hemmte neue Expansionsbestrebungen ebenso wie der innenpolitische Hang zu zentristischen Regierungskoalitionen, welche eine gemäßigte außenpolitische Haltung beförderten. Frankreichs Einmischung in Tunesien, das Italien traditionell als Vorhof betrachtete, führte zu einer antifranzösischen Haltung, die Bismarck mit der Gründung des Dreibundes auszunutzen wußte. Der Generationenwechsel – bereits 1880 war kein politischer Vertreter der Risorgimento-Generation mehr am Leben – tat sein übriges.

„Italien hat einen großen Appetit, aber sehr schlechte Zähne“, urteilte der Reichskanzler über den südlichen Verbündeten. Im Gegensatz dazu betonte Bismarck die Saturiertheit des Deutschen Reiches – es war im wahrsten Sinne „satt“. Italien blieb bis zum Ersten Weltkrieg eine hungrige Nation. Das Risorgimento-Museum in Rom beendet seine Ausstellung mit dem Jahr 1919. Für viele Italiener vollendete nicht die Einnahme Roms, sondern erst der Einmarsch in Fiume die italienische Einheit.