© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 39/20 / 18. September 2020

Auf der Suche nach dem verlorenen Kult
Eine Studie über den Attentäter Carl Ludwig Sand bleibt Antworten schuldig
Alexander Graf

Als der Theologiestudent und Burschenschafter Carl Ludwig Sand am 23. März 1819 den russischen Gesandten August von Kotzebue ermordete, löste die Tat einen Schock in den deutschen Kleinstaaten aus. Die Fürsten fürchteten, aus der jungen burschenschaftlichen Bewegung könnte eine neue gewaltsame Revolution erwachsen. So kurz nach den Schrecken der napoleonischen Kriege reagierte die Obrigkeit mit harten Repressionen und schritt zur sogenannten Demagogenverfolgung. Insbesondere die Universitäten, die Hochschullehrer und Studenten wurden in den folgenden Jahren überwacht und gegängelt. 

Die Tat Sands verstärkte unter seinen jungen Weggefährten die Schwärmerei für das nationale Pathos, das schon der Freiheitskämpfer und Dichter Theodor Körner verbreitet hatte. Sie betonten stets seine tiefe Frömmigkeit und seinen Patriotismus. War Sand deshalb „ein deutscher Gotteskrieger“? Dieser Frage versucht der Literaturwissenschaftler Harro Zimmermann in seiner Arbeit über den Attentäter nachzugehen. 

Doch im Verlauf der acht Kapitel seines Buches gerät diese Frage in den Hintergrund. Zwar zitiert der Autor ermüdend aus schriftlichen Zeugnissen Sands, betont dessen innere Zerrisenheit, seinen christlichen Glauben und patriotischen Ideale und läßt zahlreiche Zeitzeugen und Bekannte des Studenten zu Wort kommen. Doch noch etwas anderes treibt Zimmermann um. So konzentriert er sich auf die Bedeutung des Mordes für die Nachwelt. So habe sich der später für diese Tat hingerichtete Sand „um den Preis des eigenen Daseins die tiefe Gravur in den Erinnerungskultus der Deutschen erkämpft“. Solche Urteile Zimmermanns gipfeln schließlich in der These vom „über zwei Jahrhunderte anhaltenden Kult“ um den Kotzebue-Mörder. 

Konstruierte Verbindungen zum Rechtsextremismus

Zwar gab es unmittelbar nach dem Mord und auch nach der Hinrichtung des Täters am 20. Mai 1820 eine regelrechte Heldenverehrung Sands, doch spätestens im 20. Jahrhundert war er höchstens noch in burschenschaftlichen Kreisen ein Begriff, von einer Breitenwirkung seines Namens in der Öffentlichkeit kann kaum gesprochen werden. Doch offenbart Zimmermann mit Versuchen, eine Kontinuität zum neonazistischen Terror herzustellen, seine Intentionen. 

So sinniert der Autor darüber, daß Uwe Behrendt, der 1980 den Rabbiner und Verleger Shlomo Lewin und dessen Partnerin erschoß und sich dabei auf den Kotzebue-Mord berief, zum Grab des Hitler-Stellvertreters Rudolf Heß nach Wunsiedel gepilgert sein könnte; der Geburtsstadt Carl Ludwig Sands. Allerdings beging Behrendt 1981 im Libanon Selbstmord und Heß starb erst 1987. Mit Spekulationen darüber, daß pathetische Gedichte über Sand auch dem nationalsozialistischen Reichsjugendführer Baldur von Schirach gefallen hätten, offenbart Zimmermann zudem eine irritierende Fixierung darauf, Sand in eine verworrene Vorläufer- oder Wegbereitertradition des Nationalsozialismus zu stellen. 

Der Anteil wörtlicher und indirekter Zitate im Buch ist so umfangreich, daß der Vorwurf der Paraphrasierung mehr als angebracht ist. Ärgerlich sind zudem wiederholt eingestreute Anglizismen wie „roll back“ oder „public spirit“. Daß Zimmermann konsequent den falschen Terminus „Burschenschaftler“ verwendet, legt den Verdacht nahe, sich mit dem Thema nur oberflächlich befaßt zu haben. Ohne die Rolle der Burschenschaften für den jungen Mann ist die Person Sand jedoch nicht zu begreifen. 

Letztlich bleibt Zimmermann auch Belege dafür schuldig, daß sich um den Attentäter über burschenschaftliche Kreise hinaus ein „Kult“ entwickelt habe. Das entsprechende Kapitel erschöpft sich in der Aufzählung von Büchern und Theaterstücken über Sand, wobei nichts über die Rezeption in breiteren Bevölkerungsschichten gesagt wird. Daß die Erinnerung an den tiefreligiösen Mörder „ein Splitter im Fleisch des nationalen Gemüts- und Erinnerungsritus“ sei, belegt das Werk jedenfalls nicht.

Harro Zimmermann: Ein deutscher Gotteskrieger? Der Attentäter Carl Ludwig Sand. Die Geschichte einer Radikalisierung. Paderborn 2020, Ferdi-nand Schöningh, 347 Seiten, gebunden, 39,90 Euro