© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 40/20 / 25. September 2020

Sie überhöhen sich selbst
Ursula von der Leyens Pläne: Europa soll klimaneutraler Kontinent werden
Jürgen Liminski

Vorab zur Beruhigung: Aus Brüssel kommen Visionen, noch keine Befehle oder Anweisungen. Natürlich, die Visionen der Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen sind alptraumhaft. Aber die Kommission ist eben keine Regierung, auch wenn die meisten Kommissare sich für Minister der imaginären Vereinigten Staaten von Europa halten.

Die Ziele der Brüsseler Technokraten sind bekannt: Es ist das grüne, gegenderte, CO2-freie und durchnormierte Europa. Das hat von der Leyen in ihrer Rede zur Lage der Union auch so vorgestellt. Der herausstechende Merkposten: Statt der Reduktion der Treibhausgasemissionen um 40 Prozent bis 2030 sollen es nun 55 Prozent sein. Bis 2050 will von der Leyen aus Europa den „ersten klimaneutralen Kontinent“ machen. Ein hehres Ziel, das die Diskussion lohnt. Sie sollte aber ehrlich sein, und zur Ehrlichkeit gehört auch der Vergleich.

Global gesehen – und die Kommission sieht sich als „Global Player“ – ist China derzeit für 30 Prozent der CO2-Emissionen verantwortlich, die USA für 13 und die EU für neun Prozent. Die EU und die USA konnten ihren Ausstoß gegenüber 2018 um 3,8 beziehungsweise 2,6 Prozent verringern, China dagegen legte um 3,4 Prozent zu. Wo war der erhobene Zeigefinger in Richtung Peking?

Zur Ehrlichkeit gehört auch, daß der Strom nicht aus Brüsseler Steckdosen kommt und daß die deutsche Energiewende allein eine Reduktion nicht stemmen kann. Am „Green Deal“ der Kommission und dem deutschen Energiewesen wird der Planet nicht genesen. Die Stromerzeugung und Reduktion der Treibhausgase in der EU ist ohne Atomstrom nicht zu schaffen. Es wird die angepeilten Millionen Elektroautos – sprich weniger Verbrennungsmotoren – ohne Atomstrom nicht geben. Das mag den Grünen mißfallen und den medienbeflissenen Großkoalitionären auch. Es ist aber eine Tatsache. 

Zur Ehrlichkeit gehört auch, daß die Umstellungen viele Arbeitsplätze kosten werden. In der Automobilbranche rechnet man da in Zehntausenden. Transformationsprozesse kosten nicht nur Geld, sondern auch Zeit. Wenn es schneller gehen soll, wird es brutaler werden. Aber das kümmert die Brüsseler Technokraten nicht, sie haben es nicht zu verantworten, sie haben sich keinen Wählern zu stellen, sie bekommen ihre steuerfreien üppigen Gehälter auch so.

Apropos Geld: Die Kommission verfügt grosso modo im Jahr über 140 Milliarden Euro. Jetzt soll sie in 2021 und 2022 zusätzliche 750 Milliarden Corona-Aufbauhilfen unter die Nationen schmeißen. Diese Party muß organisiert werden, aber die Kontrolle wird wie bisher an den Grenzen enden. Man kann sich schon vorstellen, wie sich OK-Leute (nein, nichts ist in Ordnung, gemeint ist hier die Organisierte Kriminalität) die Hände reiben. Da werden etliche Milliarden versickern. 

Jetzt soll Europa auch ein neuer Migrationspakt à la Uno übergestülpt werden. morgen kommen Pläne für Datenstrategien, übermorgen für die Abschaffung des Bargelds, überübermorgen für die Schuldenunion. Ziel ist der Zentralstaat namens EU. Von Subsidiarität keine Spur. 

Gründerväter der Union wie Robert Schuman würden sich angesichts des heutigen Betriebs in Brüssel im Grab umdrehen. Dabei ging es auch früher nicht etwa um weniger Wohlstand oder weniger Menschlichkeit. Am Ende seines Lebens schrieb Schuman in dem autobiographischen Buch „Für Europa“: „Der Dienst an der Menschheit ist eine ebenso dringliche Pflicht wie die Treue zur Nation.“ Damit verband er sowohl Zukunft als auch Subsidiarität. Und zwar aus der Erfahrung eines realistisch und historisch denkenden Politikers. Geradezu beschwörend sein Lebensthema hervorhebend – die Einigung Europas –, sagte er mit heute ungeahnt wuchtiger Aktualität: „Europa sucht sich; es weiß, daß seine Zukunft in seinen eigenen Händen liegt. Niemals noch war es dem Ziel so nahe. Gott gebe, daß es seine Schicksalsstunde, die letzte Chance seines Heils nicht verpaßt.“

So hat man lange keinen christlichen Politiker reden gehört. Nun stehen die heutigen Verantwortlichen auch nicht im Geruch der Heiligkeit, eher im Ruch der Machtbesessenheit. Die Zeiten seien anders, sagt man da gern. Waren sie für Schuman besser? Er erlebte zwei infernale Weltkriege und einen kalten Frieden am Rand des Atomkriegs. Er erlebte die Diktatur in Deutschland und das Chaos der Vierten Republik in Frankreich. In diesem Chaos verkörperte er Kontinuität, fünf Jahre war er bis 1952 Außenminister in acht Kabinetten der Mitte, davor auch Ministerpräsident. Trotz allem blieb er seinen Überzeugungen treu. 

Die Chance des Heils, die Schicksalsstunde – in diesem Kontext sehen sich auch die Politiker in Europa heute gern. So läßt sich das Leben der Menschen einfacher lenken. Und sind Corona-Krise, Klima-Krise oder Migrationskrise nicht auch ein Stück Schicksal, ja der Aufruf an die Politik, Macht zu zeigen und zu gebrauchen? 

Einfluß und Macht waren für Schuman immer Mittel zu einem höheren Zweck, eben dem Dienst am Menschen in seiner Nation. Von solchen Gedanken und Haltungen ist das Brüsseler Europa meilenweit entfernt. Es fühlt sich niemandem verantwortlich. Da sollte es wenigstens ehrlich sein und sich nicht ständig selbst überhöhen.

Von dem früheren Nestor der Politikwissenschaft, Karl Dietrich Bracher, stammt das weise Wort: „Demokratie bedeutet Selbstbeschränkung, Diktatur Selbsterhöhung.“ Er schrieb es bezeichnenderweise in einem Bändchen über Totalitarismus. Man sollte es den Brüsseler Funktionären als Pflichtlektüre empfehlen.