© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 40/20 / 25. September 2020

Europa steckt im selbstgemachten Dilemma
Nach dem Brand des Flüchtlingslagers Moria: JF-Reporter schildert unhaltbare Zustände für Griechen und Migranten
Hinrich Rohbohm

Der Mann mit dem braungebrannten Gesicht, dem Stoppelbart und dem dunklen, gelockten Haar ist optimistisch. Zum ersten Mal wieder seit Jahren. „Mit dem neuen Lager wird alles besser“, sagt er und schiebt sich seine Sonnenbrille zurecht, während er sein Taxi zügig bis waghalsig durch die engen Gassen von Mytilene manövriert, dem Hauptort von Lesbos. Jener griechischen Insel in der nördlichen Ägäis, die sich nur wenige Kilometer vor der türkischen Küste befindet.

Der Fahrer spricht mit Freude vom neuen Migrantencamp Kara Tepe. „Endlich ist Ruhe, endlich“, sagt er erleichtert. „Fünf Jahre lang hatten wir Probleme mit den Migranten. Jeden Tag! Sie haben den Frauen die Handtaschen gestohlen, Mobiltelefone geklaut, in den Geschäften gestohlen, sich betrunken und Streit mit den Einheimischen angefangen“, schildert er jene unerfreulichen Vorkommnisse, unter denen die Bevölkerung von Lesbos seit langer Zeit leidet.

Radikale Migranten hatten Feuer gelegt, das alte, vollkommen überfüllte Aufnahmelager von Moria niedergebrannt. Ihr Ziel war es, Druck zu erzeugen, um so die griechische Regierung dazu zu bringen, mehr von ihnen auf das europäische Festland zu verlegen. 12.000 Asylsuchende sollen nun im neuen Aufnahmelager von Kara Tepe untergebracht werden.

Ein Verlassen des Lagers wie im alten Camp von Moria soll so ohne weiteres künftig nicht mehr möglich sein. Einkaufen im Nachbarort ja – aber wie in den vergangenen Jahren mit dem Bus in den sechs Kilometer entfernten Hauptort Mytilene fahren? Das wollen die Griechen nun unterbinden. Seit im März das Coronavirus auf der Insel ausgebrochen ist, dürfen die Migranten nur noch in Ausnahmefällen in den Ort.

Entsprechend beschaulich präsentiert sich das Leben unter den 38.000 Einwohnern. Nur wenige Migranten sind hier noch anzutreffen – wenn, dann auf einem Spielplatz unweit des Hafens, wo sich ein Dutzend Tag für Tag versammelt. „Einige von ihnen sind hier untergebracht. Die machen aber keine Probleme“, erklärt eine junge Mutter, die mit ihren beiden Kindern dort spielt.

„Migranten stehlen den Bauern die Lämmer“

Anders sehe es da schon in den Gegenden rund um das alte Lager von Moria aus. „Besonders die Bauern sind nicht gut auf die Migranten zu sprechen“, sagt die Frau, die in einem nahen Dorf aufgewachsen ist und die Leute gut kennt. Ihr Vater betreibe noch heute Viehzucht und Olivenanbau. „Migranten stehlen den Bauern die Lämmer von den Feldern, um sie zu schlachten.“ Zudem würden einige von ihnen immer wieder Kiefern- und Olivenbäume anzünden, um Brände zu legen. „Das ist für die Bauern natürlich ein hoher Schaden“, erklärt die Griechin. 

Ähnlich großer Ärger herrscht in dem Küstenort Panagiouda, der sich in unmittelbarer Nachbarschaft zum ehemaligen Camp von Moria und dem neuen Aufnahmelager von Kara Tepe befindet. „Sieh dich einfach um, dann weißt du, was hier los ist“, gibt ein Anwohner die Stimmung in dem Ort wieder. Er zeigt auf die unzähligen Müllfelder; auf Geschäfte, die inzwischen geschlossen sind, weil sie von Migranten regelrecht überrannt und geplündert worden seien. „Es stinkt überall nach Kot und Urin, das hier ist kein lebenswerter Ort mehr“, redet sich das Mann in Rage.

„Die Familien sind dabei weniger das Problem“, erzählt uns ein Arzt, den wir in Panagiouda kennenlernen. Viele der jungen alleinreisenden Männer würden jedoch immer wieder Ärger verursachen, Brände legen und dazu neigen, Gewalt auszuüben, um zu bekommen, was sie wollen. Es sind jene, die sich weigern, in das neue Lager von Kara Tepe umquartiert zu werden; die sich nun in den umliegenden Wäldern und in leerstehenden Gebäuden versteckt halten, und die nun von der griechischen Polizei aufgespürt werden sollen.

Der Wechsel von der gleißenden Mittelmeersonne ins Dunkel kommt plötzlich, und die Augen müssen sich erst an das Zwielicht gewöhnen, als wir eines dieser Gebäude betreten. Dann lassen sich schemenhaft erste Matratzen auf dem Boden erkennen, wenige Augenblicke später Leute ausmachen, die auf ihnen sitzen.

Mißtrauische Blicke. Dann die erwarteten Fragen: „Wer bist du, was willst du hier?“ Als das Wort Journalist fällt, entspannen sich die Gesichter. Offenbar sieht man in uns einen potentiellen Verbündeten und ist bereit, zu reden. „Wir haben nur eine Chance, wenn wir Widerstand leisten und nicht das machen, was die von uns wollen“, meint einer von ihnen. Mit „die“ sind die griechischen Behörden gemeint. Die einhellige Auffassung in der Gruppe: „Wenn wir ins Lager gehen, werden wir abgeschoben. Nur mit Druck kommen wir weiter.“

Das neue Lager gelangt an seine Kapazitätsgrenze

Sie selbst haben keine Brände gelegt, schwören sie. Aber angesichts ihrer Lage sei dies die einzige Möglichkeit, von der Insel zu kommen. Wo sie herkommen, möchten sie nicht sagen. Ungewöhnlich, denn die meisten Migranten geben hierüber bereitwillig Auskunft.

Dann macht einer aus der Gruppe eine Bemerkung, die aufhorchen läßt. „Helfer“ hätten ihnen geraten, auf keinen Fall in das neue Aufnahmelager zu gehen. „Die belügen euch und lassen euch aus dem Lager nicht wieder raus“, seien sie gewarnt worden. Waren es auch die gleichen „Helfer“, die zum Widerstand geraten haben? Allgemeines, für uns nicht verständliches Gemurmel. Schließlich bestätigt jemand die Vermutung. Von einer der Hilfsorganisationen sei es aber keiner gewesen. Welche „Helfer“ aber könnten ein Interesse an „Widerstand“ gegen die Anordnungen der griechischen Behörden haben?

Eine Begegnung mit einer Gruppe junger Europäer könnte vielleicht einen Hinweis geben. Wir hören die Gruppe deutsch sprechen. Das äußere Erscheinungsbild der jungen Frauen und Männer läßt eine linke politische Gesinnung vermuten. Wir machen die Probe, geben uns als Urlauber aus. Fragen, ob aufgrund der jüngsten Brände von den Migranten Gefahr droht.

Eine Frau mit einem halben Dutzend Piercings im Ohr verneint. „Wie sollen sie denn auch, sie werden ja gefangengehalten.“ Da sei es schon zu verstehen, daß man Widerstand leiste. Wieder dieses Wort. Um wen handelt es sich bei der Gruppe? Wir fragen, ob sie auch zum Urlaub hier seien. Keine Antwort. Sie hätten sagen können, die seien Flüchtlingshelfer, Presseleute, Sanitäter oder einfach nur so zum Helfen hier. Doch sie lassen die Frage unbeantwortet. Kurzes Getuschel in der Gruppe. Dann drehen sie sich weg. „Wir müssen jetzt gehen“, sagt einer von ihnen.

Unterdessen gelangt das neue Aufnahmelager in Kara Tepe bereits an seine Kapazitätsgrenze. 10.000 Menschen sind auf dem ehemaligen Truppenübungsplatz bereits untergebracht. Doch für alle nach dem Brand von Moria obdachlos gewordenen Menschen wird die Kapazität nicht reichen. Und ob die neuen Behausungen den sturm- und regenreicheren Tagen der Winterzeit standhalten können, ist fraglich. Entsprechende fachliche Gutachten über die Eignung des Standorts fehlen: die Zeit drängte. Eilig ist man noch dabei, das Areal nach etwaigen Minen aus Zeiten der militärischen Nutzung abzusuchen, während der Großteil der Zelte von den Migranten bereits bezogen wurde.

Sie laden kleine Steine vom Strand auf Schubkarren, fahren Holzlatten, Kisten und Paletten auf alten Kinderwagen herbei und tragen kleine Zelte ans Wasser. Sicherheitsbedienstete haben sich rings um das Lager an den gerade entstehenden Zäunen postiert. Wer das Lager wieder verlassen möchte, wird energisch zurückgewiesen.

Fünf afghanische Kinder im Alter von etwa zehn bis zwölf Jahren haben es dennoch geschafft. Sie robbten sich an den Sicherheitsbediensteten ungesehen vorbei. Jetzt sitzen sie an einem Trampelpfad nahe dem Lager, zwischen Olivenbäumen, haben eine Decke auf den Boden gelegt und Essen und Getränke darauf gestellt. „Das hat uns ein Holländer gebracht“, sagt einer von ihnen: Äpfel, Süßigkeiten, Wasser und Säfte.

Sie erzählen vom Leben im neuen Lager, in dem sie jetzt mit ihren Eltern leben. Acht bis zehn Personen müssen sich ein Zelt teilen. Ein weiterer Junge zeigt pantomimisch, wie beengt seine Schlafposition ausfällt. Sie schildern auch, wie die Lage eskalierte, als sie vor wenigen Tagen abgeholt und in das neue Lager gebracht worden waren. „Die Polizisten haben uns geschubst und mit Knüppeln geschlagen. Gegenüber der JF zeigen sie ihre erlittenen Wunden: Abschürfungen, blaue Flecke.

Polizisten wurden mit Steinen beworfen

Doch auch die griechische Polizei weiß von unschönen Szenen zu berichten. „Wir wurden von einigen Migranten bespuckt und mit Steinen beworfen“, verrät ein Polizist. Die Mehrheit der Migranten sei zwar friedlich, einige jedoch eine ernste Gefahr.

Die griechische Regierung spricht davon, daß Kara Tepe lediglich eine Übergangslösung sei. Doch schon Moria war eigentlich nur als solche konzipiert. Migranten sollten Lesbos und die anderen Inseln wie Samos, Chios oder Kos erst verlassen können, wenn sie dort ein Asylverfahren durchlaufen haben.

Erst wenn ihnen Asyl gewährt wird, dürfen sie aufs griechische Festland weiterreisen. In den meisten Fällen erweist sich der Asylantrag jedoch als unbegründet. In diesem Fall – so sieht es der EU-Türkei-Deal eigentlich vor – müßten die Migranten wieder zurück in die Türkei abgeschoben werden. So die Theorie. Die Praxis ist eine andere.

Denn die Beziehungen zwischen Griechenland und der Türkei sind angespannter denn je; jeglicher Fährverkehr zwischen beiden Staaten wurde eingestellt, Flüge auf ein Minimum reduziert. Und daß die Türkei abgeschobene Migranten trotz EU-Zahlungen nicht mehr zurücknehmen wird, wurde schon im März dieses Jahres klar, als der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan die Migranten in seinem Land zur Ausreise Richtung Europa aufgerufen hatte. Mit der Folge, daß die Griechen ihre Grenzen abriegelten. Und weil der EU-Türkei-Deal maßgeblich die Handschrift von Bundeskanzlerin Angela Merkel trägt, wächst angesichts beunruhigender Bilder der Eskalation auch der Druck auf die Bundesregierung in Berlin.