© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 40/20 / 25. September 2020

Weltrettung durch Sprachreinigung
Also dulde man nicht, daß in den Worten etwas in Unordnung sei: Eine neue, wenig Neues bringende Karl-Kraus-Biographie
Dirk Glaser

Konfuzius sagt: „Wenn die Begriffe nicht richtig sind, so stimmen die Worte nicht; stimmen die Worte nicht, so kommen die Werke nicht zustande; kommen die Werke nicht zustande, so gedeihen Moral und Kunst nicht; gedeihen Moral und Kunst nicht, so trifft die Justiz nicht; trifft die Justiz nicht, so weiß die Nation nicht, wohin Hand und Fuß setzen. Also dulde man nicht, daß in den Worten etwas in Unordnung sei. Das ist es, worauf alles ankommt.“

Erst spät, 1931, ist Karl Kraus auf diese chinesische Weisheit gestoßen und hat sie sogleich enthusiastisch zustimmend zitiert. Sie enthält in drei Sätzen sein Leben als Schriftsteller und Publizist, der im April 1899 mit dem Ein-Mann-Unternehmen der Wiener Wochenzeitschrift Die Fackel angetreten war zur „Trockenlegung des weiten Phrasensumpfes“, der sich rasant ausbreitete in dem seit Karl V. arg geschrumpften Habsburgerreich, in dem längst wieder die Sonne unterging.

Mit seiner obsessiven Kritik des durch Zeitungsphrasen geformten falschen gesellschaftlichen Bewußtseins glaubte der nimmermüde Spätaufklärer Kraus jahrzehntelang, die aus der Unordnung der Worte resultierende Unordnung des Politischen wenigstens eindämmen, sich an der Weltrettung durch Sprachreinigung beteiligen zu können. Angesichts eines solchen quasireligiösen Sprachdenkens, das Grammatik ethisch auflädt und in eine Sittenlehre der Sprache transformiert, erstaunt es nicht, wenn Jens Malte Fischer, der Verfasser der jüngsten Biographie des neben Rudolf Borchardt wortgewaltigsten Polemikers deutscher Zunge, darauf pocht, seine voluminöse Arbeit sei „durchgehend ein Werk über Kraus und die Sprache“.

Das ist sie leider nicht. Vielmehr liegt hier das Opus eines Literaturhistorikers vor, der sich seit seiner über den „Kulturkonservativen“ handelnden Dissertation vor bald fünfzig Jahren mit dem damals nahezu vergessenen Kraus beschäftigt und nun schier alles über ihn weiß. Was Fischer auf imponierenden 1.000 Seiten zu beweisen versucht, in die sich sein hoch angestautes Wissen ergießt. Daß er dabei den Ideologiekritik auf Sprachkritik stützenden Kraus entgegen der angekündigten Schwerpunktsetzung dann „durchgehend“ aus den Augen verliert, ist nicht verwunderlich. Schließlich soll das fleißig angehäufte Material ja veröffentlicht und nicht für den eigenen Nachlaß reserviert werden. 

So breitet Fischer also seine Schätze aus: Familie, behütete Kindheit, Jugend, Lebenswelt, Zeithintergrund, Kontext: die Wiener Kultur um 1900. Bis einschließlich der Schilderung der journalistischen Anfänge, der Gründung der Fackel und der Konstituierung des politisch konservativen, fortschrittskritischen jungen Verfechters der „asketischen Moderne, einer Modernität, die den Modernismus zurückweist“ (Jacques Le Rider), benötigt Fischer zwar nur erträgliche 100 Seiten, die halbwegs kurzweilig geraten, obwohl es seit Carl E. Schorskes klassischer Studie (amerikanisch 1961, deutsch 1982) wahrlich keinen Mangel an Durchleuchtungen von „Geist und Gesellschaft des Fin de Siècle“ in der Hauptstadt Österreich-Ungarns gibt. 

Aber anschließend triumphiert die Faktenhuberei, zum Eingewöhnen im Kapitel über seine Gesellschaftskritik zu „Sittlichkeit und Kriminalität“. Da nicht nur Kraus, der übrigens gegen berufstätige, sich „vermännlichende“ Frauen und für das hergebrachte Rollenmodell in die Schranken trat, sich über „Geschlecht und Moral“ ausgiebig ausließ, boten sich reizvolle Vergleiche mit literarisch prominenten  Frauenhassern wie Otto Weininger und August Strindberg ebenso an wie ein Exkurs zu Frank Wedekind, der in seiner „Lulu“-Tragödie den „weiblichen Sexualtrieb“ skandalträchtig inszenierte. Einmal beim Thema, läßt Fischer ein Kapitel über „Kraus und die Frauen“ folgen, das trotz erwiesener sexueller Beziehungen zu einem 15jährigen „Kindweib“ mit einem Freispruch endet: „Karl Kraus war kein Pädophiler.“

Nachdem das geklärt ist, gilt es, einen Vorwurf aus dem Standardrepertoire der Kraus-Kritik zu parieren: den angeblichen „jüdischen Selbsthaß“, der sich in den „antisemitisch“ konnotierten Attacken während der zahllosen Federkriege entladen habe, die der Sohn aus reichem jüdischen Hause zeitlebens austrug. Doch nach einigem Für und Wider entfernt sich der Biograph verzagt aus diesem Minenfeld: „Das Thema ‘Kraus und das Judentum’ ist für ein Fazit nicht geeignet und bleibt letztlich unabschließbar.“ 

Also geht es mit weniger verfänglichen Detailstudien lexikalisch weiter: Kraus und – seine Gegner, seine Freunde, die Psychoanalyse, die Sozialdemokratie, das Theater, die Musik, seine Beziehung zu Berlin, seine Dramen, darunter die monströse, nie aufgeführte Tragödie in fünf Akten „Die letzten Tage der Menschheit“, der Erste Weltkrieg im antimilitaristischen Widerschein der Fackel. Dazwischen eingeschoben immer wieder ein Wechsel zum privaten Kraus, zur ausgestandenen „Liebestodesangst“ in der Verbindung mit der böhmischen Adligen Sidonie Náderný von Borutin, zum Alltag  des seine Gesundheit ruinierenden Nachtarbeiters, zum Tier- und Naturfreund. Und selbst an der Marginale Literaturnobelpreis, für den ihn französische Germanisten 1926 vergeblich vorschlugen, geht Fischer nicht vorbei, ohne den Leser akribisch darüber zu informieren, auch darüber, daß der dabei engagierte Pariser Professor Charles Schweitzer ein Onkel Albert Schweitzers und ein Großvater Jean-Paul Sartres gewesen ist.

Diese bewunderungswürdig minutiöse Rekonstruktion kann jedoch nur Kraus-Novizen, an die sie kaum adressiert sein dürfte, verschleiern, daß hier der Nordpol zum zweiten Mal entdeckt worden ist. Die Konkurrenz war doch schneller, denn seit 2016 liegt auch der zuerst 2005 auf englisch veröffentlichte zweite Band der monumentalen Kraus-Biographie des britischen Germanisten Edward Timms in deutscher Übersetzung vor (JF 52/16–1/17), zu deren Materialfülle Fischer nur wenig Relevantes hinzufügt. 

Die heutige Wirkung des „Widersprechers“ Kraus ruhe, was Fischer korrekt erfaßt, auf drei Säulen: den galligen Aphorismen, den mehr gelobten als gelesenen „Letzten Tagen der Menschheit“ und, vor allem, auf der immergrünen Pressekritik, in der sich seine „ungeheure Aggressivität“ entlade, die nicht alle seine Leser aushalten würden. Wenn man aber zu Recht diese dritte Säule der Werkrezeption betont und sich dafür auf das Diktum des US-Romanciers und Kraus-Verehrers Jonathan Franzen beruft, vieles, wogegen sich Kraus’ Furor der Presse-Verachtung richtete, „trifft unsere Zeit noch genauer als seine eigene“, zumal die „Verdummungsmaschinerie“ mit Hilfe von Amazon, Facebook & Co. enthemmt aufrüste, dann darf man es nicht damit bewenden lassen, die Linien von seinem herkulischen Kampf gegen eine Presse, die als Magd der Politik und Wirtschaft vor hundert Jahren genauso wie heute die geistigen Grundlagen des Gemeinwesens zerstört, ins Hier und Heute derart schwach auszuziehen, wie es hier geschieht. Die Herrschaft der Phrase ist ungebrochen, der einst von seiner korrupten Lieblingsfeindin, der Wiener Neuen Freien („Feilen“) Presse kultivierte  Stimmungsjournalismus, der Gefühle anspricht und nicht das Denken anregt, feiert derzeit nie geahnte Triumphe.

Ein Kraus redivivus könnte also sofort zum Ausmisten des Augiasstalles antreten. Statt des „Braunwelsch“ von 1933 wäre jetzt das SchwarzRotGrün-Welsch der hegemonialen „Generation Doof“ (Stefan Bonner/Anne Weiß, 2009) aufs Korn zu nehmen. Oder zu zielen auf den im Takt von „Haltung schlägt Logik“ (so in der tapferen Nachfolge von Karl Kraus: Michael Esders) schwingenden Zeitungeist der „Willkommenskultur“, seit 2015. Fischer wagt hingegen nur ängstliche Ausblicke auf diese fetten Jagdgründe, wenn er etwa eine Blütenlese des in der Gesinnungspresse und im GEZ-TV kursierenden Dummdeutsch komponiert oder aus dem „trostlosen Dokument“, dem „gequirlten Phrasencocktail“ der sprachlich „schaudererregenden“, 2018 zwischen CDU/CSU und SPD geschlossenen Koalitionsvereinbarung in der Manier des Meisters „entlarvend“ zitiert: „‘Wir wollen eine stabile und handlungsfähige Regierung bilden, die das Richtige tut’“.

Jens Malte Fischer: Karl Kraus. Der Widersprecher. Biographie. Paul Zsolnay Verlag, Wien 2020, gebunden, 1.104 Seiten, 45 Euro