© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 40/20 / 25. September 2020

Auschwitz, die Shoah und die Grenzen abstrakter Malerei
Lehren aus Gerhard Richters „Birkenau“
(ob)

Im Sommer 2014 malte Gerhard Richter nach der Vorlage von vier unter Lebensgefahr im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau, vor den Gaskammern eines Krematoriums, gemachten Fotografien vier großformatige Bilder. Dank seiner typischen Technik, Gegenständliches mit Farbschichten zu überziehen, war nach Abschluß der Arbeit von den anfangs auf die Leinwände projizierten Fotografien nichts mehr zu sehen. Im September 2017 wurde der inzwischen „Birkenau“ betitelte abstrakte Bilderzyklus dem Deutschen Bundestag übergeben. Allerdings hängen seitdem in der westlichen Eingangshalle des Reichstags nicht die vier Originale, sondern Reproduktionen auf Aluminium. Seit ihrer erstmaligen Präsentation im Dresdner Albertinum (2014) will die vielstimmige Kritik an Richters künstlerischer „Auseinandersetzung“ mit Auschwitz nicht verstummen. Der Hauptvorwurf, den jetzt auch die Übersetzerin Nora Bierich in einem die Kontroverse resümierenden Essay erhebt, verdichtet sich in der Behauptung, die Schoah verschwinde in Richters ästhetischer Abstraktion. Und die tue dem Betrachter nicht weh. Daher eigneten sich die Bilder, mit denen der international hoch gehandelte Künstler die „der Hölle entrissenen“ Fotos wieder der Sichtbarkeit entziehe, zum bequem reproduzierbaren Aushängeschild. Dieses entspreche zutiefst seinem eigenen und dem bundesdeutschen Selbstverständnis, das sich in diesem Kontext eher als eine „Beschwörung des Wissens um den Holocaust denn als Eingeständnis seiner Schuld zeigt“. Die wesentliche Lehre aus diesem Kunstwerk sei mithin: „Auschwitz und die Shoah lassen sich nicht abstrahieren“ (Merkur, 9/2020). 


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