© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 40/20 / 25. September 2020

Auf geheimdiplomatischem Wege
Belasteter Namensgeber? Erneute Kontroverse um die Rolle von Papst Pius XII. während der NS-Zeit
Gernot Facius

Es kommt nicht allzu oft vor, daß die diskreten Prälaten in der Apostolischen Nuntiatur in Berlin, der Botschaft des Papstes, mit drastischen Worten in aktuelle deutsche Geschichtsdebatten eingreifen. Am 15. September war es soweit. „Schlicht unseriös“ sei der Vorstoß, eine nach Pius XII. (Eugenio Pacelli) benannte Straße im feinen Dahlem umzubenennen, weil dieser sich nicht eindeutig gegen den Holocaust positioniert habe. Diesen Vorwürfen müsse widersprochen werden. Von einer „Kampagne“ gegen den Papst ist die Rede: „Im Zweiten Weltkrieg hat er alles, was ihm möglich war, getan, um Leid und Not von Menschen zu lindern, ohne Ansehen von Person, Herkunft oder Religion, und um zum Frieden zu bewegen … Es ist daher recht und billig, wenn gerade in Berlin eine Straße den Namen von Eugenio Pacelli trägt.“

Im Mittelpunkt der Affäre: Felix Klein (52), der aus dem Auswärtigen Amt seit 2018 abgeordnete Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung. Der historisch nicht unbedingt sattelfeste Jurist und Beamte hatte sich der Initiative der beiden Geschichtswissenschaftler Julien Reitzenstein und Ralf Balke zur Umbenennung der Pacelliallee angeschlossen. Pius XII., so Klein in der Welt, habe zur Judenvernichtung und zum Mord an den Sinti und Roma, von denen viele katholisch waren, geschwiegen, „oder er protestierte zunächst nicht vernehmlich“. Eine Diskussion über Straßen mit belasteten Namen fördere immer auch eine kritische Auseinandersetzung mit der Geschichte – und sie biete Gelegenheit, über das Verhalten der katholischen Kirche im Zweiten Weltkrieg und die „Aufarbeitung“ nach 1945 eine breitere Debatte zu führen. Zu einem möglichen neuen Namen äußerte sich Klein nicht. 

Historiker fordern Straßenumbenennung

Vorschläge, die Pacelliallee umzubenennen, gab es viele. Sie kamen stets aus der linken Ecke. Neu – und bemerkenswert – ist, daß ein Beauftragter der CDU/CSU/SPD-Bundesregierung sie nun wiederholt. Der ganze Vorgang entbehrt nicht einer gewissen Kuriosität oder besser gesagt: Peinlichkeit. Die Straße soll, so wünschen es sich Klein und die beiden Historiker, künftig den Namen der früheren israelischen Ministerpräsidentin Golda Meir tragen. „Golda Meir“, kommentierte der Münsteraner Professor Hubert Wolf, der seit Jahren über das „Versagen“ des Vatikans forscht, „ist natürlich eine respektable Person. Aber ausgerechnet Golda Meir hat beim Tod Pius XII. erklärt: ‘Er war einer der bedeutendsten Wohltäter unseres jüdischen Volkes.’“ Wolf im Interview des Kölner Domradios: Gerade diese Frau, die diesen Papst so lobte, anstelle von Pacelli jetzt mit diesem Straßennamen zu ehren – „da weiß ich nicht, wie glücklich oder unglücklich das ist“.

Wolf plädiert seit langem dafür, über Antisemitismus zu reden, auch über die Rolle der Kirche unter Pius XII., er wird deshalb von manchem Mitglied der  katholischen Historikerzunft scharf angegriffen; man hat es, wenn man so will, mit einem katholischen Historikerstreit zu tun. In der aktuellen Auseinandersetzung rät der Münsteraner Professor zur Mäßigung: „Laßt uns nicht glauben, man könne Debatten beenden, indem man Straßen umbenennt, bevor man die Quellen gesehen hat.“ Er sei, was den „Umbenennungswahn“ angehe, skeptisch. Erinnerung habe natürlich auch damit zu tun, sich unangenehmen Dingen zu stellen. „Aber nur weichspülen zu wollen, finde ich schwierig.“

Der prominente Kirchenhistoriker und Priester erinnert zugleich an seinen Vorschlag, den Seligsprechungsprozeß des Pacelli-Papstes so lange auf Eis zu legen, bis alle relevanten Quellen gesichtet sind: „Wenn das aber gilt, dann muß auch andersherum gelten, daß wir jetzt nicht mit irgendwelchen überhasteten Forderungen nach Umbenennung kommen.“ Eine deutliche Abgrenzung von Felix Klein und den Historikern Reitzenstein und Balke also. Natürlich sei es legitim, „offene Fragen an die Quellen“ zu stellen. Wolf: „Der Papst kann viel dunkler rauskommen als erwartet – er kann aber auch heller rauskommen.“

Daß Pius XII. von der Judenverfolgung wußte, ist kein Geheimnis mehr. Kein einziger seriöser Geschichtsexperte hat das bezweifelt. „Es war Pius XII., der auf geheimdiplomatischem Wege die Alliierten auf die deutschen Konzentrationslager aufmerksam gemacht hat“, sagt zum Beispiel der katholische Historiker Michael F. Feldkamp. Seit dem Frühjahr 1942 sei im Vatikan bekannt gewesen, „daß Juden systematisch verfolgt und umgebracht wurden“.

Feldkamp reibt sich hier auch an Professor Wolf, der am 23. April 2020 in der Wochenzeitung Die Zeit in einem Beitrag mit dem Titel „Der Papst, der wußte und schwieg“ dem Pontifex Untätigkeit unterstellte. „Wolf hätte richtigerweise fragen müssen, warum die USA erst im September 1942 vatikanischen Berichten Glauben schenkten und sich detailliert nach vatikanischen Erkenntnissen über die Judenvernichtung erkundigten“, schrieb Feldkamp in der Tagespost (Würzburg). „So hat der US-Repräsentant an der Kurie, Myron Charles Taylor, dem Vatikan einen vier Wochen zuvor verfaßten Bericht der ‘Jewish Agency for Palestine’ zukommen lassen und gebeten, der Heilige Stuhl möge diesen Bericht bestätigen. Das wiederum konnte der Heilige Stuhl nicht, weil ihm über die in dem Bericht angesprochenen Liquidierungen von Juden im Warschauer Ghetto oder im Vernichtungslager Belzec bei Lublin keinerlei belastbare Informationen vorlagen.“

Pius XII. verurteilte den Judenmord

Feldkamp zitiert einen internen Aktenvermerk. Aus ihm geht hervor, daß der Heilige Stuhl befürchtete, einem amerikanischen Propagandamanöver aufzusitzen. „Dafür war Pius XII. nicht zu haben. Er war auf die Neutralität des Vatikans bedacht, verurteilte aber den Judenmord in seiner Weihnachtsansprache vom Dezember 1942.“ Darauf hat unter anderem der Historiker Saul Friedländer bereits 1965 hingewiesen.

Nach Feldkamps Meinung belegen die Akten „sehr schön“, was für eine Fülle an Falschinformationen am Heiligen Stuhl während des Krieges zusammenkamen, deren Wahrheitsgehalt möglichst über die Nuntiaturen verifiziert wurde. Selbstverständlich sei der Papst auch über die Deportation der römischen Juden im Oktober 1943 informiert worden. Pius habe daraufhin die Initiative zu Verhandlungen mit General Rainer Stahel und Botschafter Ernst von Weizsäcker ergriffen. „Er war eben nicht untätig.“

Für den Historiker und Buchautor Michael Hesemann war der Pacelli-Papst gewissermaßen der Pate, „Feldkaplan“ und „Beichtvater“ des Widerstandes gegen Hitler. Er habe den Holocaust in drei öffentlichen Ansprachen thematisiert: am 1. August 1941, 24. Dezember 1942 und 2. Juni 1943. Hesemann erinnerte an das Schreiben vom 9. Januar 1939 an 68 Erzbischöfe potentieller Aufnahmeländer, in dem das Kirchenoberhaupt darum bat, bei ihren Regierungen um Visa für 200.000 deutsche Juden zu bitten – zu einem Zeitpunkt, als im Reich noch 234.000 Juden lebten. Anlaufstelle in Berlin war ein eigens gegründetes Hilfswerk, geleitet von Prälat Bernhard Lichtenberg und Margarete Sommer. Der israelische Religionswissenschaftler Historiker Pinchas Lapide errechnete, daß mehr als 800.000 Juden den diplomatischen Aktionen des Vatikans ihr Leben verdankten. 

Über den Erfolg der Umbenennungsinitiative müßte die Bezirksverordnetenversammlung Steglitz-Zehlendorf entscheiden. Brisant: In der Pacelliallee hat – ausgerechnet – die irakische Botschaft ihren Sitz. Der Irak gehört zu den arabischen Ländern, die Israel unmittelbar nach seiner Gründung angegriffen haben. Als einziger der damaligen Angreifer lebt der Irak noch heute völkerrechtlich im Kriegszustand mit dem jüdischen Staat. Die Führung in Bagdad, kommentierte die Welt, dürfte nicht begeistert darauf reagieren, sollte es tatsächlich dazu kommen, daß die Straße den Namen der verstorbenen israelischen Regierungschefin erhält. Man sieht: Das Thema hat viele Facetten.