© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 40/20 / 25. September 2020

Von Bergmännern zu Zukunftsmachern
Glückseligkeit erreicht nur, wer fleißig schuftet: Die 4. Sächsische Landesausstellung beleuchtet in Zwickau 500 Jahre Industriegeschichte
Paul Leonhard

Ein 500 Jahre alter Kirschkern mit exakt 113 in ihn geschnittenen Menschengesichtern gehört seit dem 16. Jahrhundert zu den Schätzen des Dresdner Grünen Gewölbes. Eine 1893 auf der Weltausstellung in Chicago präsentierte in einer Walnußschale plazierte Dampfmaschine ist dagegen einer der Hingucker der aktuellen Sächsischen Landesausstellung „Boom: 500 Jahre Industriekultur in Sachsen“ und eigentlich untypisch für eine Schau, in der es um Giganten geht: um Eisenmühlen, Webereien, Erzwäschereien, Lokomotivbau. Die in eine Zeit entführt, als Städte nicht um die Zahl ihrer Kirchtürme miteinander wetteiferten, sondern der Schornsteine. Als die Industriestadt Chemnitz als das „sächsische Manchester“ und später noch treffender als „Rußkams“ bezeichnet wurde. 

Lebenswelten im Industriezeitalter

Im westsächsischen Zwickau schlägt das Herz der Landesausstellung, die den Steuerzahler fast 20 Millionen Euro gekostet hat und deren Kuratoren vom zu allen Zeiten linientreuen Deutschen Hygiene-Museum Dresden der festen Überzeugung sind, daß sich das Wort „Berggeschrey“ am besten mit „Boom“ ins heutige Deutsch übersetzen läßt.

Gleich neben dem August-Horch-Museum wurde eine 1938 gebaute Montagehalle der Auto Union AG als temporäre Ausstellungsfläche umgebaut. Doch da diese nicht ausreicht, um sächsische Industriegeschichte auch nur annähernd zu würdigen, wurde die Exposition um sechs weitere authentische „Schauplätze“ ergänzt. Was aber noch immer nicht genügt, immerhin ist 2020 das vom Freistaat ausgerufene „Jahr der Industriekultur“. Es gibt mehr als 2.200 technische und industrielle Denkmale, und so wurden weitere Industriedenkmale von Leipzig bis Görlitz in das Projekt aufgenommen. 

Wer sich vom „Berggeschrey“ anstecken läßt, läuft Gefahr, die folgenden Wochen kreuz und quer durch den Freistaat zu reisen, um eine einzigartige Industrielandschaft und ihr Auf und Ab zu erleben. In der Landesausstellung, es ist die vierte, stehen aber nicht mächtige Maschinen und Anlagen im Mittelpunkt, sondern der Mensch. „In der Zentralausstellung soll es weniger um Industrie- und Technikgeschichte gehen, sondern um den Menschen im Industriezeitalter, also darum, wie Menschen in Sachsen seit 500 Jahren ihre Lebenswelt gestalten“, umreißt Hygiene-Museumschef Klaus Vogel den Anspruch: „Es geht darum, erlebbar zu machen, wie Frauen ihre Rechte erkämpft haben, wie Demokratie errungen, verloren und wieder erobert wurde – und wie Weltoffenheit und Heimatverbundenheit sich fruchtbar ergänzen können.“

Chefkurator Thomas Spring will dazu „die Verbrechen der NS-Zeit im Kontext der regionalen Industriegeschichte als einen Hauptschwerpunkte eingehend beleuchten“, wie ein Reporter der Westsächsischen Zeitung nach einer eher internen Pressekonferenz berichtet und neben der „ideologischen Einfärbung“ auch die „triste Optik der Ausstellung“, vor allem aber die massiven Eingriffe in die denkmalgeschützte Substanz des Audi-Backsteinbaus und die ungeklärten Folgekosten für die Stadt Zwickau kritisiert.

Die an der Mulde gelegene Stadt ist deutschlandweit vor allem für den Automobilbau bekannt. Hier wurden einst prächtige Autos von Horch und Audi gefertigt, nach dem Krieg der vom VEB Sachsenring produzierte „Trabant“.

Auf 2.500 Quadratmeter Fläche entfaltet sich ein breit angelegtes kulturhistorisches Panorama der sächischen Industrie-, Arbeits- und Gewerbekultur: rund 600 historische Objekte, hochkarätige Kunstwerke, Fotografien, Filme und Zeitdokumente, darunter auch der Prototyp der von Heinrich Mauersberger in seiner Garage entwickelten „Malimo“-Nähwirkmaschine aus Limbach-Oberfrohna, die die Textilindustrie der DDR revolutionierte. 

Der Rundgang beginnt mit einer Videoinstallation, in deren Mittelpunkt der 1521 von Hans Hesse im Auftrag Annaberger Bergleute geschaffene Altar, dem aus dem Blickwinkel einer Restauratorin Leben eingehaucht wird. Das einzigartige Werk erzählt auf Holztafeln detailliert vom bergmännischen Leben. Ein Landvermesser ist zu sehen, Steiger, Hauer, Haspelknechte, Erzklopfer, der Bergmeister, der Bergbaupatron St. Wolfgang, aber auch Stollen, Erzhalden, Schmelzöfen, die Prägeanstalt. Die zentrale Botschaft des Werkes: Glückseligkeit erreicht nur, wer fleißig schuftet.

Und das taten die Sachsen in den folgenden 500 Jahren, aber sie dachten auch über ihre Arbeit nach, tüftelten an neuen Verfahren. Diese Entwicklung wird in sechs Kapiteln nachgezeichnet, deren erstes unter der Überschrift „Barock und Berggeschrey“ die Zeit von 1470 bis 1813 umfaßt. Ende des 15. Jahrhunders hatten Silberfunde im Erzgebirge das „Zweite Berggeschrey“ ausgelöst, das Menschen aus ganz Europa nach Sachsen führte und dem von den an Wissenschaft und Kunst interessierten Wettinern regierten Kurfürstentum Reichtum bescherte. Es entfaltete sich eine wirtschaftliche und naturwissenschaftliche Dynamik, die bis in das Zeitalter des Barock anhielt und ein jähes Ende mit dem verlorenen Siebenjährigen Krieg 1763 fand. 

Sachsen setzte jetzt auf „Garn & Globalisierung“, so spinnen die Kuratoren im zweiten Teil ihre Erzählung fort. Die Kurfürsten förderten Investoren und Export. Es entstand eine international vernetzte Textilindustrie und der Maschinenbau. Am Vorabend des Ersten Weltkrieges war Sachsen das Land mit dem stärksten Industrialisierungsgrad im Kaiserreich.

Restaurierte Autos im August-Horch-Museum

Parallel zu dieser wirtschaftlichen Entwicklung werden im dritten Ausstellungsteil „Karl Marx & Karl May“ die neuartigen sozialen Konflikte und die damals agierenden Persönlichkeiten aus Wirtschaft, Politik und Kultur näher beleuchtet. Diese werden wiederum flankiert vom vierten Teil „Schockensöhne & Sachsenstolz“, der die Zeit von 1904 bis 1945 umfaßt. Hier werden sowohl die bahnbrechenden Erfindungen jener Jahre vorgestellt, als auch das Entstehen des Massenkonsums und tiefgreifende Umwälzungen in allen Bereichen der Gesellschaft, die während der NS-Zeit von einer „beispiellosen, industriell geformten und organisierten Gewalt geprägt“ waren.

Zum größten Bruch mit der fortschrittlichen Industrietradition Sachsens kam es nach dem Einmarsch der Sowjets 1945 und der folgenden Machtübernahme durch die Kommunisten: Ganze Betriebe und Gleisanlagen wurden demontiert, Fabrikbesitzer und Handwerker enteignet. Forscher, Wissenschaftler und Spezialisten setzten sich mit ihren Familien in den Westen ab. Unter der Überschrift „Trabi & Treuhand“ werden die Erfahrungen der Sachsen mit den radikalen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Umbrüchen thematisiert, wobei der Kleinwagen Trabant das wohl bekannteste Beispiel für den von der DDR verlorenen „Wettbewerb der Systeme“ darstellt.

Die vom Volk gestürzten Kommunisten, die ein knappes Jahrhundert von der Substanz gezehrt hatten, hinterließen eine marode, nicht mehr wettbewerbsfähige Industrie, der mit der Wiedervereinigung der endgültige Todesstoß versetzt wurde. Wie es weiterging? Das Kapitel „Industriekultur 2020“, das die Zeit von „1995 bis 2020 und darüber hinaus“ umfaßt, lobt einen „wachsamen Unternehmergeist, auf Forschung und Wissen gründende Innovationen und die Fähigkeit zum ständigen Wandel“. Globalisierung, Digitalisierung, demographischer Wandel lauten die neuen Herausforderungen, und die Ausstellung präsentiert einige Visionen. So kommen am Ende des Rundgangs – ebenfalls in einer Videoinstallation – „Zukunftsmacher“ zu Wort, die von der anwendungsorientierten sächsischen Forschungslandschaft und erstaunlichen neuen Erfindungen berichten. 

Wer jetzt noch Kraft und Muße hat, dem sei der Besuch des benachbarten August-Horch-Museums empfohlen, mit sorgfältig restaurierten Automobilen. Die weiteren dezentralen Ausstellungsorte sind das Silberbergwerk Freiberg, das Bergbaumuseum Oelsnitz mit noch betriebsfähigen liegenden Zwillingsförderdampfmaschinen aus den frühen 1930er Jahren, die Tuchfabrik Gebr. Pfau Crimmitschau, das Eisenbahnmuseum Chemnitz-Hilbersdorf, mit 26 Hektar Fläche einst einer der größten Güterbahnhöfe Europas, und das Industriemuseum Chemnitz. Letzteres bietet den Besuchern erneut eine Zeitreise durch die Industriegeschichte, vom Bau der Dampfmaschine über den Siegeszug des elektrischen Stroms, der Erfindung des Microchips, bis zur „Industrie 4.0“ der Gegenwart mit Digitalisierung und Datenaustausch.

Die Ausstellung „Boom. 500 Jahre Industriekultur in Sachsen“ ist bis zum 31. Dezember im Audi-Bau Zwickau, Audistraße 9, täglich von 10 bis 18 Uhr zu sehen. Der Eintritt kostet 10 Euro (Kinder und Jugendliche bis 18 Jahre frei). Telefon: 03 51 / 27 810 810

 www.boom-sachsen.de