© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 40/20 / 25. September 2020

Unter die Planierraupe beugen
Anglizismen in der deutschen Sprache: Ein kritischer Einwurf zur nationalen Selbstverachtung
Heinz-Joachim Müllenbrock

Es gibt in der deutschen Sprache eine sintflutartige Vermehrung von Anglizismen. Der Verbeugung vor der Faktizität des anscheinend Unabänderlichen sei hier ein zeit- und kulturkritischer Ansatz entgegengestellt, der nicht darauf verzichtet, sprachliche Erscheinungen und die ihnen zugrundeliegende Mentalität zu bewerten. Als Ausgangs- und Bezugspunkt bietet sich der bereits am 27. April dieses Jahres in der FAZ erschienene Essay „Osteoporose im Sprachskelett“ des Anglisten Theo Stemmler an.

Stemmler, für den Anglizismen Zeichen der Lebendigkeit des Deutschen sind, bescheinigt ihnen die positive Funktion der Vereinfachung längerer deutscher Wörter. Geradezu triumphierend konstatiert er: „ … der umständliche Sommerschlußverkauf ist dem kurzen und bündigen Sale gewichen“. Hier wird sich wohl jedem sprachsensiblen Zeitgenossen der böse Kalauer vom Ausverkauf des Deutschen aufdrängen. Ganz abgesehen davon, daß bei weitem nicht alle Anglizismen das Kriterium des FAZ-Autors erfüllen – worin zum Beispiel besteht die Würze der Kürze eines Wortes wie „Equipment“ gegenüber seiner deutschen Entsprechung Ausrüstung? –, scheint sich ihm die Frage der Beeinträchtigung der Ausdrucksfähigkeit des Deutschen gar nicht zu stellen.

Jedenfalls weist er eine existentielle Bedrohung des Deutschen kategorisch zurück. Wie diese Einschätzung angesichts der Ersetzung von Tausenden deutscher Wörter durch Anglizismen aufrechtzuerhalten ist, die der „Anglizismen-Index“ auf der Netzseite des IFB-Verlags Deutsche Sprache (Paderborn) dokumentiert hat, bleibt unerfindlich. Der gewaltige Rückgang einheimischer Wörter führt zu einer Verarmung der deutschen Sprache, die an Differenzierungsvermögen und kultureller Vitalität einbüßt.

Einen Zusammenhang zwischen dem Wandel des Wortschatzes und grammatischem Wandel bestreitet Stemmler. Doch ist die Annahme nicht unbegründet, daß der laxe Sprachgebrauch, wie er sich in der Überschwemmung mit den ganz überwiegend als Substantive vorkommenden Anglizismen niederschlägt, auch Syntax und Grammatik affizieren wird. Der Durchdringungsgrad, der das Deutsche durch die Hypertrophie der Anglizismen bereits erfaßt hat, kann leicht auf die Sprache als ganze abfärben, wie die längst von der „englischen Krankheit“ befallene Sprache der Werbung belegt. So heißt es in der Werbekampagne einer Supermarktkette in lupenreinem Denglisch: „ … ist dein Place. Für Shopping und much mehr“. Das Kauderwelsch verdient Anerkennung als Symptom fortgeschrittener geistiger Infantilisierung. Sogar die Zeichensetzung scheint in der seltener gewordenen Verwendung des Kommas schon englischer Praxis zu folgen.

Verlust an kultureller Substanz des Deutschen 

Einen Sonderfall englischer Sprach-oberhoheit stellt die Usurpation von Wörtern dar, die im Englischen eine ganz andere Bedeutung haben. Für diese Kategorie steht der im Zeichen der Corona-Epidemie kursierende Begriff „Homeoffice“. Die als humorlos geltenden Deutschen können dabei sogar unfreiwillige Komik für sich verbuchen, wenn sie den Begriff „Streetworker“, der im englischen Slang Prostituierte bezeichnen soll, für Sozialarbeiter gebrauchen. Die zwanghafte Anpassungsbereitschaft an das englische Sprachregime ist in solchen gewaltsamen Germanisierungen noch auffälliger als im Fall der üblichen Anglizismen.

Schon vor einem halben Jahrhundert konstatierte Arnold Gehlen in „Moral und Hypermoral“ (1969) einen „Zustand der Sprachverarmung“, für den er objektive Gründe geltend machte. Zu letzteren gehört heutzutage der Umstand, daß die durch das Medium des Englischen geprägte Kommunikation im Internet mit seiner technisierten Plattform sprachliche Ausdrucksfähigkeit einschränkt.

Zu diesen objektiven Gegebenheiten treten mentale Dispositionen hinzu wie die in einem größeren ideologischen Zusammenhang stehende Verschmähung des Eigenen, die der Agenda eines globalen Antiidentitätsdiskurses zugeordnet werden kann. Dabei ergibt sich eine vielsagende Diskrepanz: je enger der Gesinnungskorridor mit seinen gestanzten Meinungsschablonen in Deutschland gezogen wird, desto weiter wird das Einfallstor für den linguistische Mannigfaltigkeit einebnenden Zustrom des Englischen geöffnet. Die politisch verordnete Zielvorgabe gesellschaftlicher Vielfalt wird im sprachlichen Bereich nicht eingelöst. Hier ist weltweite Einheitlichkeit der mächtigen Globalisierungslobby denn doch wichtiger als nationalsprachliche Ausdifferenzierung mit ihrem begrifflichen Eigensinn.

Deutsche sind, anders als die ihren Sprachstolz bewahrenden Franzosen, für die Preisgabe sprachlicher Eigenständigkeit besonders anfällig. Bereits 1960 bezeichnete die Londoner Zeitung The Times das sprachliche Demutsverhalten der Deutschen dem Englischen gegenüber treffend als „German linguistic submissiveness“. Diese Willfährigkeit scheint ein irritierender Zug des deutschen Nationalcharakters zu sein, der immer zwischen Extremen geschwankt hat. Heute dominiert der Unterwürfigkeitsgestus; der Deutsche möchte sich von niemandem in der Beflissenheit überbieten lassen, vor der neuen Lingua franca den Kotau zu machen.

Die Verachtung der eigenen Sprache ist Indiz mangelnder kultureller Selbstachtung und letztlich ein Zeichen nationaler Selbstverachtung. Dabei ist die gerade heute unentbehrliche geistige Selbstbehauptung Europas bedroht, wenn die seinen einzigartigen kulturellen Reichtum begründenden Sprachen sich unter die Planierraupe des Englischen beugen. Die im Schoße der individuellen Sprachen liegenden Denkformen werden dann gar nicht mehr artikuliert werden. Der Verlust an kultureller Substanz tritt etwa in der sich abzeichnenden Verkümmerung des Deutschen als Wissenschaftssprache zutage, die insbesondere die Geisteswissenschaften betrifft.

Die Überwucherung mit Anglizismen ist kein Zeichen für die Lebendigkeit des Deutschen, sondern gefährdet, zusammen mit der englischen Besetzung ganzer Diskursfelder, das authentische Ausdruckspotential einer großen Kultursprache.






Prof. Dr. Heinz-Joachim Müllenbrock ist emeritierter Ordinarius für Anglistik an der Georg-August-Universität Göttingen.