© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 40/20 / 25. September 2020

Sozialistisch erneuertes liberales Ammenmärchen
Wie der französische Starökonom Thomas Piketty das „Ungleichheitsregime“ stürzen will
Dirk Glaser

Seine Betrachtungen über „Das Kapital im 21. Jahrhundert“ machten den französischen Wirtschaftstheoretiker Thomas Piketty 2014 schlagartig weltberühmt. Der Wälzer enthält die schlichte Botschaft, daß die Reichen zu Lasten der Armen in den letzten hundert Jahren immer reicher geworden sind. So ist eine Gesellschaft der Ungleichheit entstanden, die unter den Bedingungen der hyperkapitalistischen und digitalisierten Globalisierung derart tiefe soziale Gegensätze ausprägte, wie es sie in keinem der früheren „Ungleichheitsregime“ gegeben habe.

Ungeachtet seines Umfangs ging dieses Werk über eine mit reichlich Statistik unterfütterte Phänomenologie der kapitalistischen Organisation gesellschaftlicher Reproduktion durch Arbeit aber nicht hinaus. Alternative Vorschläge, wie denn ein der kapitalistischen Verwertungslogik entzogenes Subsistenzsystem aussehen könnte, das die Menschheit nicht in den sicheren Untergang führte, blieb Piketty schuldig. Kritikern, die dies bemängelten, antwortet er jetzt mit seinem jüngsten, wiederum kompendiösen, 1.300 Seiten umfassenden Opus „Kapital und Ideologie“. Wer sich da nicht durchkämpfen möchte, dem bietet der Starökonom eine Kurzfassung in den linkslibertären Blättern für deutsche und internationale Politik (Heft 4 und 5/2020) an.      

Trotz reichlich marxistischer Rhetorik, die nach einer „realen Überwindung des Kapitalismus“ ruft, scheint Piketty das bestehende System nicht revolutionieren, sondern nur reformieren zu wollen. Sein hehres Ziel ist die „Verfassung der idealen sozialen, ökonomischen und politischen Ordnung“ für eine „neue Welt und eine andere Gesellschaft“. Den friedlichen Weg zu diesem „partizipativen Sozialismus“ könne die gegenwärtige Einkommens- und Vermögenskonzentration nur verbauen, weil sie die Welt schon bald ins Chaos stürzen werde. Aber nicht, weil die radikalisierte Ungerechtigkeit den globalen Klassenkampf in Hungeraufständen und Bürgerkriegen münden lasse. 

Piketty sieht die Hauptgefahr vielmehr darin, daß die Massen angesichts der obszön ungleichen Güterverteilung den „Ammenmärchen“ der neoliberalen Eigentums- und Leistungsideologie nicht länger Glauben schenken. Deren Kernbotschaft lautet: Die moderne Ungleichheit ist gerecht und angemessen, da sie sich aus einem frei gewählten Verfahren ergibt, in dem jeder nicht nur die gleichen Chancen des Marktzugangs und Eigentumserwerbs hat, sondern überdies ohne sein Zutun vom Wohlstand profitiert, den die Reichsten akkumulieren, die folglich unternehmerischer, verdienstvoller und nützlicher als alle anderen sind. Diese Erzählung leuchte durch die brutalen Kollateralschäden der Globalsierung nicht nur den ganz Armen weltweit immer weniger ein. Auch das in den sozialen Abwärtssorg gerissene untere und mittlere Bürgertum der Industriestaaten beginne, die Lüge zu durchschauen, der Reichtum von zehn Prozent der Weltbevölkerung liege im Allgemeininteresse. Es wende sich daher neuen, für glaubwürdiger gehaltenen, anti-universalistischen Ideologien zu. 

Als „große Ersatzerzählung“ trete heute in Europa wie in vielen anderen Teilen der Welt wieder der „ultra-inegalitäre“ Nationalismus, „Identität und Abschottung“  an die Stelle der gescheiterten kapitalistischen Legitimationsideologie. Wenn das heutige Wirtschaftssystem nicht egalitärer, gerechter und nachhaltiger gemacht werde, dann gehe es in einen Zerfallsprozeß über, dessen Hauptprofiteur der sich formierende „fremdenfeindliche Populismus“ sei.

System der „permanenten Zirkulation der Güter“

Piketty, Jahrgang 1971, zeigt sich hier zutiefst durchdrungen vom „Exorzismus des Identischen“ (Michael Esders, „Sprachregime“, 2020), den die postmodernen französischen Vordenker der unendlichen Verflüssigung und „Diversifizierung“ aller Lebensverhältnisse seit den 1980ern mit nachhaltigem Erfolg propagiert haben. Dem entspricht auch sein Versuch, den „universalistischen Horizont einer neuen Ideologie, des gesellschaftlichen Eigentums, der Bildung, der Wissens- und Machtverteilung zu erschließen“, um im Übergang vom Privateigentum zum Sozialeigentum ein System der „permanenten Zirkulation der Güter“ zu etablieren. Eigentum werde dann nur noch eine Leihgabe der Gesellschaft sein. 

Historisch, so meint Piketty, bewege er sich in den Bahnen der Mitbestimmungsregeln, die die Gewerkschaften in den goldenen Jahrzehnten des westeuropäischen Sozialstaats durchsetzten. Im Mittelpunkt seiner von Norbert Häring als „naive Vorschläge“ (Handelsblatt vom 12. März 2020) abgekanzelten Reformagenda zum Abbau der Vermögenskonzentration zwecks Vorbeugung der Weltrevolution steht die progressive Eigentumssteuer. Sie sei ein unverzichtbares Werkzeug, um eine stärkere Zirkulation und Streuung von Eigentum zu verbürgen. Eine solche jährliche Steuer schöpfe bis zu 90 Prozent des Vermögens, das der Eigentümer schließlich nur auf Kosten des Gemeinwesens erwirtschaftet habe, ab, um einen Fonds zu speisen, aus dem dann jedem 25jährigen eine „universelle Erbschaft“ in Höhe von 120.000 Euro ausgezahlt werde. 

Darüber hinaus wäre diese fiskalische Eisenbartkur mit einer starken Steuersenkung für geringe und mittlere Einkommen zu verbinden. Die einzige Strategie der Steuervermeidung, die dieses weltweit einzurichtende Steuerregime den Mega-Reichen noch offen ließe, bestünde darin, ihre Vermögenswerte zu veräußern und auch dafür noch, sollten sie ihr jeweiliges Heimatland verlassen wollen, eine „exit tax“ zu zahlen.