© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 40/20 / 25. September 2020

Willfährige Hilfskräfte bei der Polonisierung
Über den Versuch Polens, nach 1945 eine jüdische Republik in Niederschlesien zu etablieren
Paul Leonhard

Die Kleinstadt Reichenbach, etwa sechzig Kilometer südwestlich von Breslau gelegen, wurde nach Kriegsende für wenige Jahre zu einem jüdischen Zentrum. Hier fanden sich bald nach der deutschen Kapitulation Tausende Zwangsarbeiter aus dem nahen Arbeitslagerkomplex von Groß-Rosen ein, der bis Anfang Mai bestanden hatte. „Mit dem Fall der Deutschen haben die Juden die Wacht und die Arbeitsbetriebe übernommen und deklarierten laut und offen ihr Polentum“, schreibt der Zionist Jakub Egit (1908–1996) an die Regierung in Warschau: Die Juden hätten „ihr Bürgerrecht in Niederschlesien mit ihrem Blut und ihrer Arbeit erkauft“.

Eine Ansiedlung der Überlebenden und der aus den asiatischen Sowjetrepubliken ausgesiedelten Juden in den von ihrer angestammten Bevölkerung geräumten Gebieten östlich der Lausitzer Neiße wäre „eine partielle Entschädigung für das Unrecht und die Leiden, die die deutschen Verbrecher dem polnischen Judentum zugefügt haben und eine praktische Möglichkeit, sich dem pulsierenden wirtschaftlichen und kulturellen Leben des Landes anzuschließen“, so Egit. Sein Traum ist es, das unzerstörte Reichenbach, das von seinen neuen Bewohnern in Rychbach umgetauft wird und heute Dzierzoniów heißt, zum Mittelpunkt einer jüdischen Republik zu machen, als Gegenmodell zur Auswanderung nach Palästina. 

In Warschau stößt die Idee zuerst auf offene Ohren: Zum einen weiß man nicht so recht, wohin mit den aus der Sowjetunion repatriierten Juden, zum anderen könnten jüdische Siedlungen in den „wiedergewonnenen Gebieten“ allen deutschen Rückgabeforderungen einen moralischen Riegel vorschieben und drittens waren die Juden die einzige Bevölkerungsgruppe im Land, die der prosowjetischen kommunistischen Führung loyal gegenüberstand. 

In Stettin wurden Juden als „Sicherung“ angesiedelt

Während die zwangsumgesiedelten Ukrainer aus dem südöstlichen Grenzgebiet in Schlesien so verteilt wurden, daß sie „im polnischen Meer aufgehen“ würden, war bei den Juden, obwohl diese nicht als Minderheit geführt wurden, eine kompakte Ansiedlung gewünscht. Ihnen wurde „eine spezfische Rolle beider Festigung des polnischen Charakers der neuen Westgebiete zugesprochen“, so Frank Golczewski in seinem Aufsatz „Die Ansiedlung von Juden in den ehemaligen deutschen Ostgebieten Polens 1945–1951“. Die Juden galten als willfährige „Hilfskräfte bei der Polonisierung Niederschlesiens“. Als Gegenleistung dafür, daß sie als Sicherung gegen Deutschland angesiedelt wurden, erhielten sie einen besonderen Schutz durch den kommunistischen Staat. 

Das erklärt auch, warum die widerrechtlich Polen einverleibte Hafenstadt Stettin zum zweiten Schwerpunkt für die jüdische Ansiedlung auserkoren wurde. Dank gezielter Transporte schnellte die Zahl jüdischer Einwohner hier von 60 im Februar auf 31.000 im Juni 1946. Im Stadtteil Zabelsdorf (Niebuszewo) war „ein relativ kompaktes, jüdisch geprägtes Quartier mit jiddischer Umgangssprache und jüdischen Geschäften“ (Golczewski) entstanden, das nach dem weit verbreiteten jüdischen Vornamen Lejb „Lejbuszewo“ genannt wurde. Allerdings zogen viele Juden von Stettin weiter nach Berlin, so daß im Februar 1947, als Polen seine Grenzen für Auswanderer schloß, ihre Zahl auf rund 7.000 geschrumpft war. Zuvor waren bereits alle Versuche gescheitert, Juden in der ländlichen Region um Stettin anzusiedeln. Selbst als die Zugtransporte aus dem Osten in kleinen, meist zerstörten Provinzstädten ausgeladen wurden, verschwanden die meisten der Ankömmlinge rasch in Richtung der Metropole. Endgültig war das Kapitel jüdischer Ansiedlung in Stettin für die Regierung beendet, als diese 1962 den seit 1821 bestehenden jüdischen Friedhof schließen und 1982 einebnen und in einen Park verwandeln ließ.

Zwischen Breslau und Reichenbach wurden etwa 100.000 Juden angesiedelt. Nach Angaben von Andrzej Zbikowski in die „Die Erinnerung an den Holocaust in Polen“ lebten weitere 100.000 Juden in Warschau, Lodz und Krakau, wo sich schnell jüdische Vereine, politische Parteien und religiöse Vereinigungen bildeten. Bald „erinnerte das gesellschaftliche Leben der polnischen Juden bis zu einem gewissen Grade an die Vorkriegswirklichkeit, aber natürlich in viel kleinerem Maßstab“, schreibt Zbikowski. Koordiniert wurde das neue jüdische Leben von dem von Kommunisten dominierten Zentralkomitee der Juden in Polen (ZKJP), das 1944 im befreiten Lublin gegründet worden war und auch über die Verteilung der Spenden aus dem Ausland entschied.

Wie viele Juden nach 1945 in Polen lebten, ist ungewiß, weil viele ihre Identität verleugneten, um ein neues Leben beginnen zu können, andere dem Judentum verbunden blieben, sich aber nicht registrieren lassen wollten. Das Jüdische Komitee meldete im Juni 1945 etwa 55.000 Juden, Ende des Jahres waren es 91.000 und Ende Juni 1946 sogar 240.000.  

Nach dem Bekanntwerden des Pogroms in Kielce, wo am 4. Juli 1946 ein polnischer Mob 42 Juden tötete und weitere 28 bis 30 in Personenzügen, an Eisenbahnstrecken und Bahnhöfen ermordete, setzte eine neue Fluchtwelle ein. Daß Polen als Reaktion seine Südgrenze zur Tschechoslowakei vom Sommer bis zum Beginn des Winters überraschend geöffnet hatte, sahen viele als letzte Chance, dem latenten Antisemitismus der Polen zu entkommen. „Auch gerade erst in Niederschlesien niedergelassene Juden wurden von dem Strom der Juden aus Zentralpolen mitgerissen, der durch die niederschlesischen Ortschaften zur Grenze zog“, konstatierte die jüdische Selbstverwaltung.

1957 lebten nur noch 70.000 Juden in Polen

„Niemand ist gegen Emigration, aber, das was sich in letzter Zeit auf der jüdischen Straße tut, führt nicht zum Ziel, sondern bringt nur viele Juden aus dem Gleichgewicht, die sich ihr Leben auf polnischem Land schon eingerichtet haben“, beklagte der Vorsitzende des Jüdischen Kreiskomitees in Waldenburg (Walbrzych), Trajber: „Wir meinen, daß die panische Flucht, die derzeit stattfindet, nur zur Vernichtung der Reste des polnischen Judentums führen kann.“ 

Da die Kommunisten zu diesem Zeitpunkt noch einen „Wiederaufbau einer gesunden jüdischen Siedlung in Polen“ befürworteten, kam es trotz der Flucht von 150.000 Juden aus Polen bis Ende 1946 danach zu einer bis zum Frühjahr 1948 andauernden Konsolidierungsphase des polnischen Nachkriegsjudentums.

Im Frühjahr 1947 lebten noch 89.000 Juden in Polen, 42.000 davon in 38 Orten Niederschlesiens (42 Prozent), 14.700 in der Wojwodschaft Lodz, etwa 6.000 in Stettin, je 5.000 bis 7.000 in Oberschlesien sowie den Wojwodschaften Krakau und Warschau, in anderen Wojwodschaften unter 1.000. 

Als schwierig erwies es sich, Arbeit für die Ankömmlinge zu beschaffen. Zu einer Groteske entwickelte sich die Gründung einer jüdischen Fischereikooperative in Ziegenort (Trzebiez) am Stettiner Haff, da keiner der meist aus Zentralpolen stammenden Juden Erfahrungen mit Fischfang hatte. Das führte dazu, daß die jüdischen „Fischer“ später meist von den Grenztruppen unter dem Vorwurf des Schmuggels und der Förderung der illegalen Emigration festgenommen wurden und schließlich das einzige Boot von polnischen Fischern zerstört wurde. 

In Reichenbach weigerten sich sowohl die vorerst noch zurückgehaltenen deutschen Betriebsleiter als auch ihre polnischen Nachfolger, Juden zu beschäftigen. Aus vielen Dokumenten dieser Zeit läßt sich herauslesen, daß die Juden als „parasitäre, außerhalb des normalen Wirtschaftslebens angesiedelte Existenzen“ galten. Dafür spricht auch der Terminus „Produktywizacja“, der sprachlich den Prozeß beschreibt, durch den ein bisher nicht produktiver Mensch zu einem solchen gemacht werden soll.

Letztlich hatte auch die jüdische Republik in Niederschlesien, als „Mustergebiet für die Anhänger des Verbleibens in Polen“, keine Chance. Die Zeichen standen auf Emigration – in die USA, nach Israel oder in die Bundesrepublik. „Die Leute sollten nicht wie Feiglinge weglaufen“, wetterte Egit vergeblich: „Ausreisen muß man mit Würde, und bleiben mit Würde.“ Egit verließ, zum Staatsfeind erklärt, gebrochen und desillusioniert 1957 Polen, da lebten in dem Land keine 70.000 Juden mehr.