© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 41/20 / 02. Oktober 2020

Natürlich eine Nation
30 Jahre Wiedervereinigung und 150 Jahre Gründung des Deutschen Reiches: Warum uns das Selbstverständliche so schwerfällt
Dieter Stein

Es ist das Schicksal des 3. Oktober 1990, des Tags der deutschen Wiedervereinigung, daß die wenigsten mit ihm so starke Bilder und Emotionen verbinden wie mit dem Mauerfall am 9. November 1989. Den Vollzug der staatlichen Einheit empfinden wir in der kollektiven Erinnerung nur als bürokratischen Schlußpunkt.

Vor 30 Jahren stand ich mit Freunden auf der Wiese vor dem Reichstag. Es war ein kühler Abend unter einem wolkenlosen Nachthimmel. Hunderttausende hatten sich eingefunden vor dem Portal und erlebten den Moment, als die riesige „Fahne der Einheit“ von Sportlern aus beiden ehemaligen deutschen Teilstaaten emporgezogen und die Nationalhymne gesungen wurde. Das war ein sehr erhebender Augenblick, und für einen Moment konnte es so scheinen, als ob die Deutschen tatsächlich mit sich und ihrem Dasein im reinen wären. 

Der Moment hielt nicht an. Sehr rasch hat sich gezeigt, wie schwer wir es mit uns haben. Was vor allem damit zusammenhängt, daß schon die Frage, ob es eine deutsche Geschichte, ein deutsches Schicksal, eine deutsche Nation gibt, umstritten ist. 

Das hat vor allem mit einem Versagen der geistigen Führungsschicht zu tun. Auch wenn die Wiedervereinigung immer von einer Mehrheit der Deutschen bejaht wurde – bei Meinungsumfragen sprachen sich im Westen bis zu 80 Prozent dafür aus – unter den Medienmachern, den Intellektuellen, den Geistlichen, den Lehrern und Parteifunktionären war das Thema zu den Akten gelegt worden.

Man hatte sich mit der deutschen Teilung nicht nur arrangiert, ihr Zustand wurde sogar als historisch richtig, ja als Segen für Europa interpretiert. Endlich hatte sich die „verspätete Nation“ (Helmuth Plessner), das „ruhelose Reich“ (Michael Stürmer) erledigt. Das „Zeitalter der Nationalstaaten“ sei vorbei, echote mein Geschichtslehrer (CDU-Mitglied) an einem Gymnasium in Südbaden, als ich Mitte der achtziger Jahre dort Forderungen nach einer aktiven Deutschlandpolitik vortrug. Das in der Präambel des Grundgesetzes definierte zentrale Staatsziel der Wiederherstellung der Einheit der Nation wurde als eine anachronistische Utopie abgetan. Das westdeutsche Juste milieu hatte sich auf den bequemen Standpunkt gestellt, ein vereinigtes Deutschland, das sowieso längst jenseits aller Vorstellungskraft sei, gefährde das friedliche Zusammenwachsen „Europas“, womit dessen westlicher Teil gemeint war.

Doch der Zusammenbruch des realexistierenden Sozialismus und der Aufstand der Deutschen in der DDR sorgte dafür, daß unsere Geschichte mit diesem Kapitel nicht beendet wurde. Es hat wohl einen tieferen Sinn, daß der Tag der Wiedervereinigung mit dem Jubiläum der ersten deutschen Einheit fast zusammenfällt: der Gründung des Deutschen Reiches vor 150 Jahren, als nach dem Sieg über Frankreich 1871 der preußische König Wilhelm I. zum ersten Deutschen Kaiser proklamiert wurde.

Derselbe Kanzler Helmut Kohl, der einen Monat vor dem Mauerfall im Oktober 1989 noch gegenüber dem italienischen Ministerpräsidenten Andreotti beteuerte, die Deutsche Frage werde nicht gelöst „im Sinne des Nationalstaates von Bismarck“, stellte im Juli 1990 im Gespräch mit  dem sowjetischen Präsidenten Michail Gorbatschow fest, es gelte im Sinne Bismarcks „den Mantel der Geschichte“ zu ergreifen und die Wiedervereinigung zu ermöglichen.

Mit seiner Reminiszenz an Reichskanzler Otto von Bismarck, den genialen Architekten des 1871 gegründeten Deutschen Reiches, hatte Kohl dann doch klargemacht, auf welchem Fundament unser Staatswesen steht. Dieses Fundaments sollten wir uns eigentlich in Würde erinnern. Aber davon ist keine Rede. Unter welcher historischer Amnesie wir leiden, zeigt sich auch daran, daß es kein offizielles positives Gedenken an 1871 geben wird. Kein anderes Volk kann uns hier verstehen, schon gar nicht die Franzosen. Denn es ist sinnlos zu leugnen, daß das wiedervereinigte Deutschland in der Nachfolge jenes Reiches steht, das Bismarck errichtet hat, was auch sinnbildlich darin zum Tragen kommt, daß der Bundestag im Reichstagsgebäude zusammenkommt. Nicht nur der starke Föderalismus, die Verfassung, sondern auch der Sozialstaatsgedanke und große Teile der Rechtsordnung gehen auf das Reich von 1871 zurück.

Auffällig oft ist in einem Land, das eine 40 Jahre währende Trennung durch den Eisernen Vorhang überwand, von der Sorge die Rede, es drohten „neue Spaltungen“, wird der Konsens, die Harmonie, die „Angleichung der Lebensverhältnisse“ beschworen. Woher kommt die deutsche Reserve vor gesunder politischer Polarisierung und kontroverser Debatte? 

Dabei ist uns der Dissens in die Wiege gelegt: Die konfessionelle Spaltung infolge der Reformation Martin Luthers, des Schöpfers der deutschen Schriftsprache, mündete im deutschen Urtrauma des Dreißigjährigen Krieges. Die jahrhundertelange Unfähigkeit zu einer handlungsfähigen großen Einheit, die Zersplitterung in zahllose Kleinstaaten unter einem schwachen Kaiser. Immer wieder überrannt, besetzt, in konkurrierenden Koalitionen europäischer Mächte gegeneinander in Stellung gebracht.

Die napoleonische Okkupation provozierte Anfang des 19. Jahrhunderts die Modernisierung deutscher Länder. Die preußischen Reformen wurden zum Treibsatz der Emanzipation von Kleinstaaterei und feudaler Rückständigkeit. Aber Deutschland sei weiter rückwärtsgewandt, politisch im Gegensatz zu anderen Nationen impotent – allein souverän im „Luftreich des Traums“ – beklagte der patriotische Dichter Heinrich Heine den Hang zu sentimentaler Weltflucht in seinem Werk „Deutschland. Ein Wintermärchen“ kurz vor der demokratischen Revolution von 1848.

Letztlich reichte nicht Poesie und revolutionäre Schwärmerei. Notwendig war Politik als „Kunst des Möglichen“, wie sie nach Bismarck Staatsmänner beherrschen sollen. Helmut Kohl, der als Regierungschef viele gravierende Fehlentscheidungen zu verantworten hatte, begriff doch im entscheidenden Moment, daß ohne Zögern gehandelt werden und die Dinge zügig zu dem einzigen denkbaren Ende getrieben werden mußten: der Wiederherstellung Deutschlands in Frieden und Freiheit.

Das deutsche Problem bleibt nicht nur seine riskante geographische Mittellage, es ist der Nationalcharakter, der zwischen Extremen pendelt: zwischen Servilität und Anmaßung, zwischen Unterwerfung und Größenwahn. Es fehlen uns Maß und Mitte. Wie der britische Kriegspremier Winston Churchill meinte: „Man hat die Deutschen entweder an der Gurgel oder zu Füßen.“

Deutschland wurde zur Wiege zweier mörderischer totalitärer Weltanschauungen: Marxismus und Nationalsozialismus, die im Abermillionen Leben verschlingenden Versuch mündeten, einen Neuen Menschen zu schaffen. Auschwitz ist Ausdruck einer ideologisch begründeten maßlosen Hybris. Als Konsequenz daraus die Zerstörung und Überwindung der Nation als vermeintlicher Quelle des totalitären Wahns durchsetzen zu wollen, führt nicht zu Humanität, sondern zu erneutem Größenwahn. Der von Frankreich immer wieder gefürchtete „Koloß jenseits des Rheins“ (Jacques Bainville), er steht plötzlich wieder auf, wenn Deutschland, von solchem moralischen Rigorismus getrieben, den anderen europäischen Nationen in der Frage der Asyl- und Migrationspolitik mit einer Überheblichkeit entgegentritt, deren besondere unduldsame Anmaßung im eigenen negativen Geschichtsbild wurzelt.

Aber es gibt eine Alternative: Freuen wir uns der wiedergewonnenen Einheit und söhnen wir uns endlich mit dem Gedanken aus, eine Nation zu sein, die von Dauer ist.