© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 41/20 / 02. Oktober 2020

„Es war eine Befreiung“
Heute wird verdrängt, daß im Westen oft verfemt wurde, wer es wagte, gegen die DDR und für die Wiedervereinigung zu kämpfen. Der Schriftsteller Chaim Noll erlebte es am eigenen Leib und warnt: Dreißig Jahre nach der Einheit droht sich die Geschichte zu wiederholen
Moritz Schwarz

Herr Noll, weshalb haben Sie die Wiedervereinigung vor dreißig Jahren als eine, wie Sie sagen, „große Befreiung“ erlebt?

Chaim Noll: Weil wir immer auf sie gesetzt haben. Seit meine Frau und ich 1984 aus der DDR ausreisen konnten, haben wir den Untergang dieses Staates vorausgesagt – was im Westen Deutschlands auf Befremden stieß.

Wieso, die Wiedervereinigung war in der Bundesrepublik doch Staatsdoktrin?

Noll: Formal ja. Doch in Wahrheit hatte man sich längst mit dem DDR-Regime eingerichtet und betrieb eine Politik des „Appeasement“. Wer, wie ich, publizistisch gegen das SED-System arbeitete, stieß bestenfalls auf Desinteresse, oft auf Ablehnung oder Feindschaft. Helmut Kohl erklärte noch im Sommer 1989, es sei nicht deutsche Regierungspolitik, „die DDR zu destabilisieren“.

Kohl galt aber doch, ob seines passiven Festhaltens am Wiedervereinigungsgebot des Grundgesetzes, selbst als „kalter Krieger“.

Noll: Auch er hat sich in den Jahren vor der Wiedervereinigung dem Appeasement-Kurs angepaßt, wie sein Staatsempfang für Erich Honecker 1987 zeigte. Offenbar hatten die meisten westdeutschen Politiker dieser Tage die Hoffnung auf eine Wiedervereinigung verloren und glaubten, sich mit der SED arrangieren zu müssen. Man begann intensive Geschäftsbeziehungen mit der DDR-Führung, die zur Folge hatten, daß man ihnen zuliebe die Augen zudrückte gegenüber Menschenrechtsverletzungen und anderem Unrecht.

Schließlich mußten Sie auch West-Berlin verlassen, wo, wie Sie schreiben, „osteuropäische Geheimdienste mit einer Dreistigkeit operierten, die (für Sie) gefährlich war“.

Noll: Bis heute wird kaum thematisiert, wie sehr die Stasi und der sowjetische Geheimdienst KGB damals die Bundesrepublik, besonders Berlin infiltriert hatten. Nicht nur, daß sie im Westen zahlreiche Spitzel anwarben, sie beeinflußten auch durch geschickte Desinformation weite Kreise der westlichen Intellektuellen, die in ihrem Sinne die DDR verharmlosten. Und auch immer wieder direkte Eingriffe: So verschwanden noch im Frühjahr 1989 in der Freien Universität in West-Berlin meine Personalunterlagen, wodurch sich meine Einstellung erheblich verzögerte. Wie sich nach der Wende herausstellte, arbeitete der zuständige Dekan für die DDR-Staatssicherheit. Vor allem aber Verleumdungen, negative Etikettierungen, Rufschädigung. Daher kenne ich vieles, was mir heute in Zusammenhang mit meiner Kritik am Islam nachgesagt wird, schon aus dieser Zeit.

Konkret?

Noll: Heute behaupten die gleichen Kreise, die mich damals als „antikommunistisch“ und „kalten Krieger“ bezeichneten, ich sei „islamophob“ oder „rassistisch“. Weil wir das schon mal erlebt haben, kann es mich nicht mehr erschüttern – auch nicht der Vorwurf der Paranoia, der Übertreibung der Gefahr.

Was Sie schildern, erinnert an das, was heute Islamkritiker wie Sabatina James oder Hamed Abdel-Samad berichten: eine fast völlige Gleichgültigkeit der Gesellschaft gegenüber der Bedrohung, die sie erleben.

Noll: Abdel-Samad habe ich einmal darauf angesprochen, als ich ihn unterwegs traf. Damals noch ohne Leibwächter, was mich erstaunte. Inzwischen aber hat sich das geändert, weil die Gefahr seit 2015 erheblich zugenommen hat.

Sie spielen auf den „Asylsommer“ an?

Noll: Der Sommer 2015 zeigte die Selbstpreisgabe der Bundesrepublik gegenüber dem Ansturm islamischer Migration – der die deutsche Gesellschaft und den deutschen Staat öffentlich als schwach entlarvt hat. Was Entwicklungen auslöste, die etwa zur Zeit der Wiedervereinigung noch völlig unvorstellbar waren. Offenbar hat die Bundesrepublik ein schwaches Immunsystem. Die gleiche Erfahrung haben wir damals in bezug auf die Einflüsse der DDR gemacht. Das trug dazu bei, daß wir uns innerlich mehr und mehr ablösten und zu Beginn der neunziger Jahre Deutschland verließen. Als auch die CDU auf Appeasement-Kurs schwenkte, waren wir gesellschaftlich isoliert.

Das erinnert ebenfalls an heute: Die CDU/CSU ist in der Gesellschaftspolitik weitgehend auf Linie der Grünen geschwenkt und isoliert alle, die ihre ehemalige Gesellschaftspolitik vertreten, als rechtsradikal.

Noll: Auch damals haben nur wenige in der Union diesem Trend widerstanden. Zum Glück hatten wir immer in Deutschland ein paar aufrechte Freunde, die uns beistanden. Zum Beispiel Siegfried Lenz, als Hoffmann und Campe mein drittes Buch „Berliner Scharade“ im letzten Augenblick stoppen wollte, weil ich darin auch die Kollaboration zwischen westlichen Politikern und dem DDR-Regime beschrieb. Lenz intervenierte beim Verlag und erreichte, daß mein Buch erscheinen konnte.

Was ist mit der SPD, die traditionell an der Seite ausgegrenzter Intellektueller steht?

Noll: Das muß lange her sein. Schon in den achtziger Jahren war die SPD, wie heute auch, ganz auf Verbrüderungskurs – heute gegenüber unmenschlichen islamischen Staaten wie dem Mullah-Regime im Iran, damals gegenüber dem DDR-Regime.

Heute gilt die Wiedervereinigung als selbstverständlich. Wie war das vor 1990?

Noll: Noch im Sommer 1989 galt, wer von der Wiedervereinigung sprach, mindestens als hoffnungsloser Fall, wenn nicht als schlimmer Rechtsaußen. Für uns war es ein charakterbildendes Erlebnis: Wir haben die Erfahrung gemacht, was es bedeutet, konsequent gegen den Strom zu schwimmen. Und wie es ist, wenn man am Ende recht bekommt und von der Geschichte bestätigt wird. Um Ihnen das Ausmaß der ideologischen Verblendung vor der Wiedervereinigung zu illustrieren: Neulich habe ich einen alten Zeitungsausschnitt über eine Lesung von mir gefunden, von 1987. Dort sagte ich voraus, daß die Sowjetunion bald kollabieren würde. Erst lachte mich das Publikum aus, dann schrieb die Zeitung, daß es mir an Kompetenz mangle, weil die UdSSR nach wie vor stabil sei.

Wie bewerten Sie dieses Verhalten heute?

Noll: Als belletristischer Schriftsteller habe ich immer Verständnis für die Schwächen der Menschen. Ich verstehe, daß viele bis in den Sommer 1989 nicht an die Wiedervereinigung glauben konnten – weil sie sich das einfach nicht vorzustellen vermochten. Manche standen zu sehr unter linkem Einfluß, andere hatten einfach nicht genug Phantasie.

Also auch hier eine Parallele zum Ignorieren der Folgen islamischer Massenmigration?

Noll: Ja, und es wurde, wie heute auch, gern mit Krieg gedroht: Würde der Westen dieses oder jenes Zugeständnis nicht machen, dann erhöhe sich die Kriegsgefahr. Wer sich für das Ende der Berliner Mauer einsetzte, der galt folglich als Kriegstreiber.

Wie lautet also Ihre Bilanz, heute, dreißig Jahre später?

Noll: Was wir heute an Demontage der Demokratie erleben, hat damals schon begonnen. Nicht erst Angela Merkel, auch Helmut Kohl war kein Freund abweichender Meinungen – auch wenn es noch lange nicht so schlimm war wie heute. Und die Aggressivität der Linken, von denen man keinerlei Fairneß erwarten kann, war damals schon prävalent, nur waren sie noch in der Opposition. Heute sitzen sie in den Schaltstellen und können ihre falschen Narrative überall verankern, selbst in den deutschen Schulbüchern. Vom Narrativ über die DDR und den Kommunismus als nicht so schlimme Diktatur mit eigentlich guten Absichten, über die Verklärung der Achtundsechziger, bis zum falschen Narrativ über Israel.

Inwiefern?

Noll: Israel wird als Apartheid-Staat und Aggressor dargestellt, der die Palästinenser unterdrückt und völkerrechtswidrig das Westjordanland besiedelt.

Und das trifft nicht zu?

Noll: Nein. Israel ist eine funktionierende multikulturelle Gesellschaft. Wußten Sie, daß zwanzig Prozent der israelischen Staatsbürger Araber sind und größtenteils gut integriert?

Nein.

Noll: So ist auch der nach Darstellung deutscher Medien „völkerrechtswidrige Siedlungsbau“ in der Westbank in Wahrheit nicht nur völkerrechtlich legitim, sondern sogar geboten. Der Völkerbund hat 1920 bei Erteilung des Mandats über Palästina an die Briten festgelegt, daß Juden im gesamten Mandatsgebiet siedeln sollen. Das war der eigentliche Zweck des Mandats, „close Jewish settlement“, also „dichte jüdische Besiedlung“, wie es in den Dokumenten heißt, und diese Regelung hat die Uno 1947 in San Francisco übernommen. Völkerrechtlich fragwürdig ist allenfalls die militärische Besetzung der „Palästinenser-Gebiete“ – aber das ist etwas anderes.

Kann man die damalige Verdrängung mit der Verdrängung im und nach dem Nationalsozialismus vergleichen?

Noll: Jeder Verdrängung liegt der gleiche menschliche Verdrängungsmechanismus zugrunde: Es geht um die Leugnung von Realität zugunsten eines vorgefaßten Bildes, das man um jeden Preis bewahren will. Dieses Wunschbild gewinnt stärkeren Einfluß auf das Denken als die Wahrnehmung des Tatsächlichen. Als wir noch in der DDR lebten, haben uns unsere linken West-Besucher erklärt, wie gut wir es doch in der DDR hätten.

Die deutschen Linken haben also keineswegs, wie sie stets unterstellen, als einzige die richtigen Lehre aus dem Nationalsozialismus gezogen?

Noll: In Wahrheit haben sie gar keine Lehren daraus gezogen, sondern wiederholt, was sie ihren Eltern vorwarfen. Indem sie deren Verdrängung der Nazizeit durch andere Verdrängungen ersetzen. Sie haben jahrzehntelang verdrängt, daß im Kommunismus ebenfalls Millionen Menschen aus politischen Gründen ermordet wurden. Oder daß der Gulag durchaus eine den deutschen KZs vergleichbare Einrichtung war. Und natürlich verhält man sich gegenüber allen, die einen daran erinnern, aggressiv. Und nun wiederholt sich die Verdrängung gegenüber dem Islam, der als Opfer des westlichen Imperialismus und Kolonialismus gesehen wird, während die Gefahren, die von ihm ausgehen, der islamische Imperialismus, die dort herrschende Frauen- und Fremdenverachtung oder der religiöse Fanatismus, verdrängt werden.

Dennoch gewinnt man aus einigen Ihrer letzten Veröffentlichungen den Eindruck, Sie hielten nicht die Linke für die eigentliche Gefahr für unsere Demokratie, sondern Angela Merkel. Warum?

Noll: Ist da noch ein Unterschied? Viele wissen nicht mehr, wieviel demokratischer die Bundesrepublik früher war. Damals wurden abweichende Meinungen ermutigt und unterstützt. Heute gibt es statt intellektuellem Diskurs die „cancel culture“. Daran ist natürlich nicht allein Angela Merkel schuld. Ich habe lange geglaubt, daß sie da keine große Rolle spielt. Doch dann kam der Fall Sarrazin, Merkels Vorverurteilung eines Buches, das sie nicht mal gelesen hatte. Diese Art Eliminierung von Andersdenkenden gab es früher nicht. Heute aber ist es Usus, Vertreter abweichender Meinungen auszugrenzen und zu ruinieren. Was mit dem Anspruch einer bürgerlichen Demokratie unvereinbar ist. Die schwerste Sanktion gegen Sarrazin ging von der Kanzlerin aus. Ein Fall von Machtmißbrauch. Ein totalitärer Akt. Angela Merkel hat keinerlei Demokratieverständnis. Woher sollte sie es haben? Sie verbrachte ihre gesamte Jugend im DDR-Nachwuchskader und trat dann in den nächsten hermetischen Apparat über, die CDU. Der Parteienforscher Hans Herbert von Arnim hat in seinen Büchern analysiert, daß in den westdeutschen Parteien ähnliche autoritäre Machtstrukturen herrschen wie in der DDR. Wenn auch mit dem entscheidenden Unterschied, daß keine von ihnen den Staat allein beherrscht.

Mal abgesehen vom Ende der DDR – welche Bedeutung hatte 1990 für Sie die Wiedervereinigung Ihres Vaterlandes?

Noll: Ich habe mich von Kindheit an eher jüdisch als deutsch gefühlt, nachdem ich erfahren hatte, daß meine Großmutter als Jüdin im KZ gewesen war. Für mich reichte 1990 die Wiedervereinigung über den deutschen Rahmen hinaus. Es ging um die grundlegende Verachtung des Menschlichen in der DDR und im Kommunismus – mit denen, zu unserer großen Enttäuschung, der Westen kollaborierte. Es ging also darum, daß dieses politische System am 3. Oktober 1990 endlich sein Ende fand. 






Chaim Noll, wurde 1954 als Hans Noll in Berlin geboren. Der Sohn des erfolgreichen DDR-Schriftstellers Dieter Noll ging 1984 nach West-Berlin, dann nach Stuttgart und Rom. 1995 wanderte er nach Israel aus. Dort unterrichtete er nebenher Literatur an der Ben-Gurion-Universität. Zu seinen wichtigsten Veröffentlichungen zählen die Romane „Berliner Scharade“ (1987), „Der Kitharaspieler“ (2008) und „Kolja. Erzählungen aus Israel“ (2012). Zuletzt erschien: „Die Wüste. Literaturgeschichte einer Urlandschaft des Menschen“ (2020)

Foto: Glückliche Deutsche am Abend des Tags der Deutschen Einheit 1990: „Noch im Sommer 1989 galt, wer von der Wiedervereinigung sprach, als ein hoffnungsloser Fall, wenn nicht als schlimmer Rechtsaußen ... Die gleichen Kreise, die mich damals als ‘antikommunisitsch‘ und ‘kalten Krieger‘ bezeichnet haben, behaupten heute, ich sei ‘islamophob‘ oder ‘rassistisch‘“


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