© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 41/20 / 02. Oktober 2020

Gauland in Not
Gewaltphantasien: Die „Affäre Lüth“ gerät für die AfD zum Desaster / Zwei Fraktionen fliegen auseinander
Lukas Steinwandter / Christian Vollradt

Der Start in die neue Woche hätte für die AfD kaum schlechter laufen können. Die Scherben in Hannover und Kiel, wo die Landtagsfraktionen der Partei durch Austritte vor dem Ende stehen, waren noch nicht aufgekehrt, da nahte die nächste Horrornachricht. Am Montag morgen berichtete die Zeit-Online über eine Dokumentation des Senders ProSieben unter dem Titel „Deutsch, rechts, radikal“.  

In dieser TV-Dokumentation ist zu sehen, wie die Kölner Youtuberin Lisa Licentia, die eigentlich Lisa H. heißt, im Februar dieses Jahres in der „Newton Bar“ in Berlin-Mitte zusammen mit einer unkenntlich gemachten Person sitzt. ProSieben hatte entschieden, den Namen des „AfD-Funktionärs“ nicht zu nennen. Doch die Zeit konnte bereits vorab den Gesprächspartner eindeutig identifizieren: Christian Lüth, zum Zeitpunkt der Aufnahmen Leiter der Pressestelle der AfD-Bundestagsfraktion. 

Licentia ging laut eigenen Angaben bereits mit der Absicht zu dem Treffen, die AfD zu demaskieren. Wie angekündigt, spricht sie Lüth zunächst auf das Ergebnis der Landtagswahl in Hamburg an, die an dem betreffenden Tag stattfand. Zum Zeitpunkt des Gesprächs lag die AfD noch unterhalb der Fünfprozenthürde. Dennoch gibt Lüth sich selbstbewußt, sagt, das mache bundesweit nichts aus und bei der Bundestagswahl im nächsten Jahr werde seine Partei weiter zulegen. Warum er sich so sicher sei, fragt die junge Frau. „Was soll jetzt noch kommen?“ Es werde zwar ein paar „Rechtsterroristen“ geben, aber viel öfter würden sich Moslems „hier in die Luft sprengen“, das sei „überhaupt kein Thema“. Zwischendurch telefoniert Lüth – offenbar mit dem AfD-Fraktionsvorsitzenden Alexander Gauland; es geht um die Wahl in Hamburg. Dann lenkt Licentia das Gespräch wieder auf den Islam und die Masseneinwanderung. „Es liegt nicht an denen, daß die so scheiße sind, es liegt an uns, daß wir sie reinlassen“, erklärt Lüth. 

Allein das Wort „Vergasen“ – schlimmer geht’s nicht

Und dann fallen die Sätze, die bereits vor Ausstrahlung der Doku deutschlandweit für Schlagzeilen sorgten. „Die AfD ist wichtig; und das ist halt schizophren, das haben wir mit Gauland lange besprochen: je schlechter es Deutschland geht, desto besser für die AfD.“ Auf die Frage, „ob es in deinem (Lüths, Anm. d. Red.) Interesse wäre, daß noch mehr Migranten kommen“, antwortet dieser: „Ja. Weil dann geht es der AfD besser. Wir können die nachher immer noch alle erschießen. Das ist überhaupt kein Thema. Oder vergasen, oder wie du willst. Mir egal! Aber jetzt, wo die Grenzen immer noch offen sind, müssen wir dafür sorgen, solange die AfD noch ein bißchen instabil ist und ein paar Idioten da antisemitisch rumlaufen und so weiter, müssen wir dafür sorgen, daß es Deutschland schlechtgeht.“ Die Youtuberin erwidert, das sei doch das Gegenteil von dem, was sie wolle. Lüth antwortet betont chauvinistisch: „Das weiß ich doch, aber denk doch mal taktisch, Mäuschen. Bleib ruhig, du mußt ein bißchen länger denken. Als Frau fällt das ein bißchen schwer, ne, du hast ein paar Hormone und Emotionen, kenn ich ja auch.“ 

Noch bevor irgend jemand in der Bundestagsfraktion die verschwiemelten Aufnahmen gesehen hatte, war der Super-Gau in Sachen professioneller Außendarstellung eingetreten. Im Glauben, eine Frau aus dem Umfeld der Identitären Bewegung mit einer gewissen Szene-Prominenz und Youtube-Gefolgschaft vor sich zu haben, in gelöster Stimmung und alkoholisierter Atmosphäre hatte Lüth den Dicken markiert. Der Schaden war da und er bleibt. Allein das Wort „Vergasen“ im Zusammenhang einer Partei rechts der Mitte – schlimmer geht es nicht. 

Der Vorsitzende der AfD-Bundestagsfraktion, Alexander Gauland, ließ umgehend verlautbaren, die Lüth „zugeschriebenen Äußerungen sind völlig inakzeptabel und in keiner Weise mit den Zielen und der Politik der AfD und der AfD-Fraktion im Deutschen Bundestag vereinbar.“ Die Behauptung, er habe mit Lüth „über diese Themen auch nur gesprochen beziehungsweise ich hätte die Herrn Lüth zugeschriebenen Äußerungen ihm gegenüber sogar gebilligt, ist völlig absurd und frei erfunden“, fügte er hinzu. 

Damit zog sich um den – bereits ehemaligen – Pressesprecher der Fraktion im Bundestag die berufliche Schicksalsschlinge zu. Ausgerechnet jetzt, als Lüth noch davon ausgegangen war, bald wieder an seine Wirkungsstätte zurückzukehren. Denn bereits seit April hatte ihn sein Arbeitgeber beurlaubt (JF 19/20). Grund war ebenfalls eine verbale Entgleisung in Kurznachrichten an eine junge Frau. So habe er unter anderem auf die Frage der Gesprächspartnerin, ob er „Reaktionär“ sei, geantwortet: „Faschist“. Die Nachfrage, ob er das ernst meine, erwiderte Lüth mit „Natürlich“. 

Bereits damals galt er vielen Abgeordneten in der AfD als nicht mehr tragbar. Für Monate blieb es jedoch bei der relativ sanften Disziplinarmaßnahme – ohne finanzielle Einbußen für den Betroffenen. In der ersten Sitzungswoche nach der Sommerpause fiel dann eine erste Entscheidung: Lüth war nicht mehr Pressesprecher. Zugleich beauftragte die Fraktion ihren Vorstand damit, ein „berufliches Abklingbecken“ zu finden. Aus einer gewissen sozialen Verantwortung heraus wollte man den Familienvater, der seit 2014 für Partei und Fraktion im Dienst war, nicht ins Bodenlose fallen lassen. 

Lüth, der sich, anders als die meisten Pressesprecher in vergleichbarer Position, nicht gern im Hintergrund hielt, streute bereits in Medienkreisen, er werde künftig „Medienkoordinator“ oder gar „Mediendirektor“. Verfrüht, wie sich zeigte. Denn tatsächlich war er zum Zeitpunkt, als Anfang dieser Woche die Enthüllungen über sein Bar-Gespräch samt der verbalen Entgleisungen bekannt wurden, nach wie vor beurlaubt. 

Am Montag ging dann alles unter dem Druck der Ereignisse recht schnell. Noch vor Beginn der Fraktionssitzung beschloß der Vorstand einstimmig, Lüth fristlos zu kündigen. Bereits zuvor hatten zahlreiche Abgeordnete einen entsprechenden Initiativantrag unterzeichnet. Teilnehmer berichteten, es sei während der Sitzung laut geworden. Einige hätten der Führung vorgehalten, den ehemaligen Sprecher zu lange gedeckt zu haben – zum Schaden der AfD. Andere sprechen eher von einem „Sturm im Wasserglas“: Eigentlich sei man sich ja einig gewesen, es habe nur Streit um Detailfragen gegeben. „Typisch AfD halt“, bemerkte ein Teilnehmer augenrollend. So monierten manche Abgeordnete, durch diesen Antrag, der etwas fordere, was bereits vom Vorstand beschlossen wurde, könne der Eindruck entstehen, wer ihn nicht unterzeichnet habe, sei gegen den Rausschmiß Lüths. Eine Besonderheit der Geschäftsordnung der Fraktion ist zudem, daß die gesamte Fraktion über die Personalie befinden muß. Doch schon um 16.30 Uhr lobte dann die hessische AfD-Lantsgsfraktion per Pressemitteilung die Entscheidung der Kollegen in Berlin, den Ex-Pressechef zu entlassen: „Rassistische, antisemitische Äußerungen sowie Gewaltphantasien haben in der AfD keinen Platz.“

Bereits während der abendlichen Ausstrahlung der Dokumentation hatten Fernsehzuschauer in den sozialen Medien darauf hingewiesen, daß es sich bei der Wiedergabe von Lüths Worten im Film laut Sender lediglich um ein Gedächtnisprotokoll handle. Ein Mitarbeiter von ProSieben erwiderte, daß das Senden verdeckter Ton-Aufnahmen rechtlich nicht gestattet sei, weshalb sie nachgesprochen und mit einem entsprechenden Hinweis versehen würden.Auf Twitter brüstete sich ein anderer Youtuber, der zuvor aus „geleakten“ Nachrichten der Frau zitiert hatte, er habe „die AfD-Fraktionsspitze in einem telefonischen Gespräch detailliert und umfassend über die bevorstehende Pro-7-Doku und den Lüth-Skandal informiert und zum Handeln ermahnt“. Mit wem konkret der Mann telefoniert habe, verriet er nicht. „Von so einem Gespräch ist der Fraktionsführung nichts bekannt“, teilte ein Pressesprecher der AfD im Bundestag auf Anfrage der JUNGEN FREIHEIT mit. 

Daß die Frau, die dem Sender als Lockvogel gedient hatte, noch Wochen nach dem heimlich gefilmten Gespräch munter „rechte“ Inhalte auf ihrem Youtube-Kanal sendete und zuvor als Laiendarstellerin in sogenannten „Scripted-Reality-Formaten“, also Filmen mit ausgedachter Handlung im Stil einer Dokumentation, mitgewirkt hatte, vermag die Authentizität der Aufnahmen aus der Bar nicht zu erschüttern. 

Immerhin eines bleibt der AfD in dieser Affäre erspart: ein langwieriges Ausschlußverfahren. Lüth war schon zuvor kein Parteimitglied mehr, nachdem es zu Unstimmigkeiten über zu entrichtende Beitragszahlungen gekommen war.

Ohne Einigung keine      Zukunft in der Partei

Derweil geriet das Ungemach für die AfD im Nordwesten fast in den Hintergrund. Am Freitag hatte der Abgeordnete Frank Brodehl während einer Debatte im Kieler Landtag seinen Partei- und Fraktionsaustritt bekanntgegeben. In einer Erklärung teilte Brodehl mit, für seine Entscheidung ausschlaggebend gewesen sei die Entwicklung der Partei. Der Bildungspolitiker galt als vehementer Widersacher der ehemaligen Landesvorsitzenden Doris von Sayn-Wittgenstein. Dem amtierenden Landesvorstand warf er vor, die Partei in ihrem Geiste weiterzuführen. Für diese Kritik habe er Verständnis, so der bisherige Fraktionschef Jörg Nobis gegenüber der JF, dennoch sei er vom unangekündigten Schritt Brodehls enttäuscht. 

Noch vertrackter ist die Lage in Niedersachsen (JF 40/20). Dort ist die AfD-Fraktion nun am Dienstag „per ordre de mufti“, von Landtagspräsidentin Gabriele Andretta (SPD), für aufgelöst erklärt worden. Die drei ausgeschiedenen Abgeordneten, Ex-Fraktionsvorsitzende Dana Guth, Stefan Wirtz und Jens Ahrends hätten der Landtagsverwaltung am Montag „übereinstimmend und nachvollziehbar sowohl persönlich als auch schriftlich erklärt, daß sie ihre jeweilige Austrittserklärung in schriftlicher Form, ergänzend per E-Mail, an sämtliche Vorstandsmitglieder sowie an die Fraktion übermittelt haben“, so ein Sprecher der Landtagsverwaltung. 

Die sechs übrigen AfD-Abgeordneten hatten nämlich erklärt, ihnen sei der Austritt der drei formal nicht korrekt mitgeteilt worden. Der bisherige Parlamentarische Geschäftsführer Klaus Wichmann hatte am Montag im Gespräch mit der JF bestätigt, seiner Ansicht nach bestehe die Fraktion noch. Er bedauerte die Eskalation „wegen Nichtigkeiten“, es habe im Vorfeld genug Gesprächsangebote gegeben. Noch auf dem Parteitag in Braunschweig (JF 39/20) habe sie die erfolgreiche Sacharbeit der Landtagsfraktion gelobt – als der bis dato einzig intakt gebliebenen in einem westdeutschen Flächenland. 

Was, so fragen die Kritiker ihres Manövers, soll sich daran innerhalb von einer Woche geändert haben. Die Ex-Fraktionschefin selbst sprach jedoch davon, daß Mitarbeiter der Fraktion von ihren innerparteilichen Widersachern eingeschüchtert worden seien. Daß nun die Ex-Kollegen die Annahme der Austrittserklärungen verweigerten, sei „Kindergarten“. Beide Seiten werfen sich zudem gegenseitig vor, die ausgestreckte Hand nicht zu ergreifen. 

Das Treffen der Abgeordneten aus Niedersachsen mit dem Bundesvorstand fand erst nach Redaktionsschluß dieser Ausgabe statt; doch im Vorfeld waren die Hoffnungen auf eine doch noch irgendwie einvernehmliche Kompromißlösung relativ klein. Sollte es in Hannover beim Abgang der drei bleiben, haben sie nach Meinung führender Parteifunktionäre keine Zukunft mehr in der AfD.