© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 41/20 / 02. Oktober 2020

Das Schleusernetzwerk von Weißenfels
Fleischwirtschaft: Razzia in über 60 Objekten in fünf Bundesländern / Nutzung gefälschter Dokumente für irreguläre Migration floriert
Christian Schreiber

Die deutsche Fleischwirtschaft kommt nicht zur Ruhe. Nachdem es wiederholt zu Corona-Ausbrüchen in Schlachthöfen (JF 23/20) gekommen ist und die Afrikanische Schweinepest (ASP, JF 39/20) Brandenburg erreicht hat, macht nun ein Skandal um illegale Beschäftigung negative Schlagzeilen. 820 Ermittler haben vorige Woche mehr als 60 Wohn- und Geschäftsräume in fünf Bundesländern durchsucht. Ein Schwerpunkt der Razzia lag auf Weißenfels und Bernburg im Süden Sachsen-Anhalts, Papenburg und Twist im Emsland und Garbsen bei Hannover. Auch in Bassum bei Bremen, Berlin, Bonn und Chemnitz gab es Durchsuchungen.

Die betroffenen Betriebe sollen in den vergangenen sechs Monaten mindestens 82 Personen aus Weißrußland, der Ukraine, dem Kosovo und Georgien mit ge- und verfälschten Dokumenten oder als als „Scheinstudenten“ nach Deutschland geholt haben. Zu den zumindest indirekt betroffenen Firmen gehörte auch der westfälische Fleischproduzent Tönnies – größter Schweine-Schlachtbetrieb Deutschlands – , der schon wiederholt im Zentrum öffentlicher Kritik stand. Der Bundespolizei teilte mit, ihr seien seit Jahresanfang vermehrt rumänische Dokumente aufgefallen, die offenbar gefälscht waren.

„Kein Anfangsverdacht gegen Firma Tönnies“

Eine Anfrage bei den Behörden in Bukarest habe gezeigt, daß die auf den Dokumenten ausgewiesenen Personen nicht existierten. Die Unternehmen böten die eingeschleusten Arbeiter dann anderen Firmen als legal eingereiste „EU-Bürger“ an, erklärte ein Polizeisprecher. Ihr Lohn fließe jedoch an die Schleuser, bei den Beschäftigten komme nur wenig an. Mindestens 1,5 Millionen Euro „unsauberen Gewinn“ konnten die Beamten durch die Razzia beschlagnahmen. „Viele Firmen erfahren gar nicht, daß ihre Arbeiter illegal hier sind“, erklärte die Polizei weiter. „Es besteht überhaupt kein Anfangsverdacht gegen Tönnies.“

Die Arbeiter hätten allesamt gültige Papiere gehabt und die notwendigen Bescheinigungen, etwa vom Gesundheitsamt. Bislang gebe es keine Pflicht für Schlachtbetriebe, die Identität seiner über Subunternehmer angeworbenen Schlachter zusätzlich selbst zu überprüfen. „Die Nutzung gefälschter Dokumente für irreguläre Migration und illegale Beschäftigung floriert auch in Mitteldeutschland“, erklärte Polizeioberrätin Romy Töwe von der Bundespolizeiinspektion Kriminalitätsbekämpfung Halle/Saale. „Damit geht zum einen ein hoher Schaden für die Sozialkassen sowie für Unternehmen, welche die gesetzlichen Bestimmungen einhalten, einher. Zum anderen wird die Arbeitskraft der Betroffenen schonungslos ausgenutzt.“

Und es könnte nur die Spitze des Eisberges sein: „Das Phänomen wird uns die nächsten Jahre weiter befassen“, so Polizeiführerin Töwe. Bereits im April hatte es in anderen Bundesländern ähnliche Vorfälle gegeben. Im Fleischwerk Rheinstetten der Edeka Südwest Fleisch in Baden-Württemberg sollen ebenfalls Mitarbeiter aus Nicht-EU-Ländern illegal beschäftigt gewesen sein. Im Zentrum der Ermittlungen steht seitdem die polnische Firma Meat-Pros. Der Subunternehmer habe demnach bei Ukrainern Dokumente gefälscht, um sie als EU-Bürger beschäftigen und an Edeka vermitteln zu können.

Anfang des Jahres ging vor dem Oldenburger Landgericht ein Prozeß zu Ende, der versuchte, Licht in einen mehrere Jahre zurückliegenden Fall von illegaler Beschäftigung und Dumpinglöhnen in der Fleischbranche zu bringen und in dessen Zentrum die Marke Wiesenhof stand. Der deutsche Marktführer bei Geflügelfleisch und ein Subunternehmen mußten insgesamt eine Million Euro zahlen, weil jahrelang bulgarische Arbeitnehmer unerlaubt eingesetzt wurden. Das Urteil gegen einen ehemaligen Wiesenhof-Prokuristen sowie einen Subunternehmer fiel aber im Vergleich zu Steuerverfahren mild aus.

Dabei unterstellte die Staatsanwaltschaft, daß die Beschuldigten von 2007 bis 2010 rund 800 Ausländer verbotenerweise an Fleischfirmen verliehen hätten. Weil sie weder Sozialabgaben noch Lohnnebenkosten zahlten und den Arbeitern nur 3,50 bis vier Euro pro Stunde zahlten, strichen sie 4,7 Millionen Euro Gewinn ein. Drei Jahre zuvor war Wiesenhof schon einmal Bestandteil eines handfesten Skandals. Damals gingen die Hauptbeteiligten ebenfalls straffrei aus, weil die Taten bereits verjährt waren.

Die Strafkammer in Oldenburg entschied allerdings, daß das Wiesenhof-Unternehmen knapp elf Millionen Euro Wertersatz zahlen muß. Das war die Summe, die sich das Unternehmen durch den Einsatz der Bulgaren zu Dumpinglöhnen (vier Euro pro Stunde statt wie vorgeschrieben zwölf Euro) an Ausgaben gespart haben soll. Damals ging es allerdings nicht um die Einschleusung von Arbeitskräften, sondern um das systematische Unterlaufen von Werkverträgen. Diese sind unter anderem gekennzeichnet durch ein komplett eigenständiges Arbeiten ohne Weisungsgebundenheit.

Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) will nun mit einem neuen Gesetz in der Fleischindustrie aufräumen und Mißstände beseitigen. NRW-Landesminister Karl-Josef Laumann (CDU) unterstützt dabei seinen Ressortkollegen. Neben den Werkverträgen soll auch die Leiharbeit verboten werden. Das aber geht den Verbänden der Fleisch- und Geflügelwirtschaft viel zu weit. Die sogenannte Arbeitnehmerüberlassung sei wichtig, um etwa in der Grillsaison kurzfristig und befristet mehr Arbeiter einstellen zu können.

Geschäftsbericht des Bundesverbands der Deutschen Fleischwarenindustrie (BVDF): bvdf.de

Verband der Fleischwirtschaft: www.v-d-f.de