© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 41/20 / 02. Oktober 2020

Den Weg in die EU erschweren
Europäische Agentur für die Grenz- und Küstenwache Frontex: Brüssel setzt auf Stärke beim Grenzschutz und bei Rückführungen
Marc Zoellner

Für Omid Nabizada endete der Traum von einem Leben am Strand von Lesbos: 2017 war der heute 22 Jahre junge Mann aus der afghanischen Hauptstadt Kabul aufgebrochen, um über den Iran und die Türkei nach Europa zu gelangen. Mit Jobs hatte er sich am Ende ein für seine Verhältnisse kleines Vermögen zusammengespart, um seine Schleuser an der türkischen Küste zu bezahlen. Doch statt der EU erwartete den Afghanen die Küstenwache, um ihn zusammen mit drei Dutzend weiteren Passagieren in Gewahrsam zu nehmen. „Sie sagten, ein Bus würde kommen, um uns ins Camp zu bringen“, erzählt Nabizada der türkischen Zeitung Daily Sabah. „Stattdessen haben sie uns auf ein Boot gesetzt und in einer sehr schlechten Position auf dem Meer ausgesetzt.“

Seit 2011 wird Griechenland bei seiner Eindämmung illegaler Migration aus Kleinasien von der Europäischen Agentur für die Grenz- und Küstenwache (Frontex) im Rahmen der „Operation Poseidon“ aktiv unterstützt. Über sechshundert Experten aus sämtlichen europäischen Mitgliedsstaaten sind jedes Jahr ab März vor Ort, um mit eigenen Hubschraubern sowie einer Flotte von 13 Schiffen nach illegalen Migranten  und havarierten Schiffen Ausschau zu halten, Menschen-, Waffen- und Drogenschmuggler zu verhaften sowie Daten über kriminelle Schleusernetzwerke zu sammeln. Mit Erfolg: Es gelang Frontex zusammen mit seinen griechischen Kollegen, allein dieses Jahr bei über einhundert Havarien rund 3.150 Migranten aus den Wassern der Ägäis zu retten.

Daß Frontex an Rückführungen in die Türkei involviert ist, streitet die EU-Behörde jedoch kategorisch ab. „Unsere Einsätze und Beamten waren niemals an derartigen Vorfällen beteiligt“, weist Frontex-Sprecher Chris Borowski die Anschuldigungen Ankaras scharf zurück. Die türkische Regierung indessen beharrt auf ihren Behauptungen und führt Fälle wie jenen des Afghanen Omid Nabizada von Mitte September an. Weit über 70.000 Migranten, beschuldigt Ankara die Athener Grenzbehörden, seien allein in den vergangenen drei Jahren von Griechenland zurück in die Türkei gedrängt worden. Von den griechischen Behörden verlangte die EU-Innenkommissarin Ylva Johansson umgehende Aufklärung. „Wir können unsere europäischen Grenzen nicht schützen, indem wir unsere Werte verletzen“, erklärte die schwedische Sozialdemokratin.

Bosnien und Herzegowina  ruft Frontex um Hilfe 

Für die griechischen Grenzschützer, die sich aufgrund ihrer geringen Stärke sowie ihres beschränkten Budgets gerade in der Flüchtlingskrise heillos überlastet sind, bleibt die Frontex-Operation „Poseidon“ essentiell. Ähnlich ergeht es auch anderen EU-Staaten im europäischen Grenzbereich: Neben „Poseidon“ koordiniert Frontex weitere umfangreiche Einsätze. Nach Albanien und Montenegro plant Frontex nun auch  eine Mission in Serbien. Seit Februar 2018 sind Frontex-Beamte in Süditalien zur „Operation Themis“ stationiert, um potentielle Flüchtlingsrouten von Libyen und Tunesien zu überwachen. In Ungarn und Kroatien übernehmen Frontex-Experten auch zollrechtliche Aufgaben, speziell bei der Beschlagnahmung geschmuggelter Zigaretten sowie der Kontrolle des Autoverkehrs nach gestohlenen Fahrzeugen. 

Jüngster Erfolg: In einer einwöchigen Operation von Frontex-Kräften und österreichischer Polizei, die unter dem Namen „Joint Action Day (JAD) Danube 5“ firmierte, wurden insgesamt 50 verdächtige Personen festgenommen und 7.248 illegale Migranten entdeckt.

Auch in Spanien sind 180 Beamte im Einsatz, um neben der Bekämpfung illegaler Migration unter anderem auch in der Drogenfahndung tätig zu sein.

Dabei gleicht nicht nur die spanische Festlandküste einem offenen Sieb, sondern ebenso jene der im Atlantik gelegenen Kanarischen Inseln. Frontex ist hier auf Wunsch der Lokalregierung mit eigenen Helikoptern sowie einer kleinen Staffel an Küstenwachtbooten aktiv, denn spätestens seit dem Ausbruch der Corona-Krise sind die Kanaren in den Fokus der Menschenschmuggler gerückt: Setzten 2019 noch 556 illegale Migranten mit dem Boot auf die spanischen Atlantikinseln über, waren es dieses Jahr bereits gut 3.500 – ein Anstieg von 520 Prozent. 

Noch im Februar konnten von der Grenzschutzbehörde über einhundert aus Mauretanien stammende Migranten – nicht alle mit mauretanischem Paß – per Passagierflugzeug von den Kanaren aus zurück auf das Festland gebracht werden. Seit dem Ausbruch des Coronavirus sind allerdings auch diese Flüge ausgesetzt.

Ein Hilfeersuchen aus der spanischen Hauptstadt sei noch immer nicht eingetroffen, bestätigten Frontex-Sprecher Mitte September. Zur Eindämmung der Migration aus Westafrika hatten sich die Kanaren zeitgleich, unterstützt von der EU-Innenkommissarin Ylva Johansson, bei einem Treffen auf dem afrikanischen Festland an den mauretanischen Präsidenten Mohamed Ghazouani persönlich gewendet.

Ganz anders als die spanische Regierung wünscht sich der kleine Balkanstaat Bosnien und Herzegovina eine verstärkte Präsenz der Frontex-Behörde an seinen Grenzen förmlich herbei. „Wir haben hier eine Situation, in welcher Migranten sehr leicht innerhalb von nur drei bis fünf Tagen durch Griechenland aus der EU zu uns kommen“, berichtet der bosnische Grenzschutzleiter Zoran Galic. „Auf der anderen Seite haben wir jedoch Kroatien, welches seine Grenzen derart sicher schließt, daß diese Migranten nicht weiter in die EU wandern.“ 

2020 gibt es 101,4 Millionen Nachschlag 

Bosnien und Herzegovina, erläutert Galic im Interview mit der Independent Balkan News Agency (IBNA), sei der letzte Halt dieser illegalen Einwanderer. Vor einer ähnlich komplexen Problematik stünden allerdings auch die Balkanstaaten Serbien, Montenegro und Nordmazedonien. „Wir brauchen die Zusammenarbeit mit Frontex“, so Galic. „Wenn der Staat die benötigten Mittel nicht bereitstellen kann, wäre es sinnvoll, sich auf Frontex verlassen zu können.“

Tatsächlich darf Sarajevo hoffen: Denn der vergangenen Mittwoch von EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen in Brüssel vorgestellte EU-Migrationspakt beinhaltet neben einem neuartigen „Solidaritätssystem zur Verteilung von Flüchtlingen innerhalb der EU-Mitgliedsstaaten ebenso einen drastischen Ausbau der Grenzschutzbehörde Frontex. 

Beginnend ab dem 1. Januar kommenden Jahres sollen bis 2027 Tausende neue Mitarbeiter angeworben werden, um nicht mehr nur die Grenzen der EU besser vor illegaler Einwanderung abzusichern. „Eine Kooperation mit den Staaten des Westbalkans wird den Frontex-Grenzbeamten ermöglichen, gemeinsam mit nationalen Grenzeinheiten auf dem Gebiet der Partnerstaaten zu operieren“, heißt es in einem Schreiben der EU-Kommission an das Europäische Parlament, welches den Migrationspakt demnächst zu beraten hat. Zur notwendigen finanziellen Vorbereitung der Frontex-Aufstockung hatte die EU die Gelder der Behörde bereits für 2020 um 101,4 Millionen Euro aufgestockt. Auf Druck der konservativen Parlamentsfraktionen dürften die kommenden EU-Haushalte diesen Etat noch einmal kräftig aufstocken. „In der Migrationskrise haben wir uns vorgenommen, zehntausend Frontex-Beamte zu haben, um die EU-Außengrenzen besser zu schützen“, hatte EVP-Fraktionschef Manfred Weber unlängst noch verkündet. „Mit dem heutigen Budget ist das nicht erreichbar.“

Linke Kritik: „Frontex ist eine kriminelle Agentur“

Die EU-Kommission wiederum verweist auf die bereits jetzt erhöhte Effizienz des Grenzschutzes durch Frontex – und wirbt gleichermaßen für die rasche Umsetzung ihres noch immer umstrittenen Migrationspaktes: „Zum Höhepunkt der Flüchtlingskrise im Jahr 2015 wurden an den EU-Außengrenzen 1,82 Millionen illegale Grenzübertritte registriert“, berichtet die Kommission in einer Erklärung zum angestrebten Pakt. „Im Jahr 2019 ist diese Zahl auf 142.000 gesunken.“ 

An den Erfahrungen aus der Flüchtlingskrise gewachsen, hat sich Frontex längst vom handzahmen Papiertiger zur einsatzstarken Grenzbehörde entwickelt. Insbesondere der sozialistische Flügel im EU-Parlament zürnt über diese rapide Leistungssteigerung: „Frontex ist eine kriminelle Agentur und sollte verschwinden“, beklagt beispielsweise der spanische Podemos-Abgeordnete Miguel Urbán die Beteiligung von Frontex-Beamten an Abschiebungen von Flüchtlingen von Griechenland in die Türkei. „Die Übertragung von mehr Befugnissen und mehr Geld an Frontex wird diese kriminelle Migrationspolitik noch weiter stärken.“ Nicht zu akzeptieren, so Urbán weiter, sei, daß Athen auch durch die Beihilfe von Frontex allein zwischen März und Juli dieses Jahres fast zehntausend Abschiebungen in der Ägäis durchführen konnte.

Genau dies soll eines der künftigen Hauptanliegen der Behörde werden, wie der neue Migrationspakt darlegt: „Im gemeinsamen EU-System für Rückführungen muß Frontex eine führende Rolle einnehmen, um diese Rückführungen auch in der Praxis ordentlich funktionieren zu lassen“, heißt es von seiten der EU-Kommission. „Die Priorität von Frontex sollte darauf liegen, der ausführende Arm der EU-Rückführungspolitik zu werden.“ Um die Effizienz der Grenzbehörde zu gewährleisten, möchte die EU-Kommission in den kommenden Jahren nicht nur einen eigenständigen „Rückführungskoordinator“ samt Expertenstab benennen. 

An der maritimen Grenze Griechenlands zur Türkei wird ebenso der Einsatz altbewährter Technik im Kampf gegen illegale Migration neu erprobt: Noch in diesem Herbst steigt auf der Insel Samos ein 35 Meter langer Zeppelin zur dauerhaften Grenzüberwachung in die Höhe: ausgestattet mit Radar, Wärmebildkamera sowie einem automatischen Identifikationssystem – und finanziert und betrieben von der Frontex-Behörde mit ihrem inzwischen auch in Griechenland aufgestockten Expertenteam.