© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 41/20 / 02. Oktober 2020

Thalers Streifzüge
Thorsten Thaler

Wenn böse Vorahnungen sich bewahrheiten, ist das alles andere als ein Grund zur Freude. Vor einem halben Jahr notierte ich an dieser Stelle, die Vorabinformationen zur Neuproduktion von Richard Wagners Tetralogie „Der Ring des Nibelungen“ an der Deutschen Oper Berlin ließen „nichts Gutes erwarten“ (Streifzüge vom 27. März). Nachdem der „Rheingold“-Auftakt im Juni wegen der Corona-Pandemie ausfallen mußte und auf 2021 verschoben wurde, hatte nun vergangenen Sonntag unter Infektionsschutzbedingungen – besetzt werden durften 770 von 1.800 Plätzen, und auch während der Vorstellung herrschte Maskenpflicht – die von Regisseur Stefan Herheim inszenierte „Walküre“ ihre Premiere an der Bismarckstraße, und siehe da: Zum Schluß hagelte es lautstarke Buh-Rufe für die Regie.


Die Vierer-Runde am Nebentisch in meinem Stammlokal , zwei deutlich lebensältere Paare, kennt gefühlt über zwei Stunden hinweg nur drei Gesprächsthemen: Krankheiten, Arztbesuche und Medikation/Therapien. Wie hat Anfang 2011 der damals 84jährige Schauspieler und Moderator Joachim „Blacky“ Fuchsberger seine Biographie betitelt? Altwerden ist nichts für Feiglinge.


Im Zentrum von Herheims „Walküre“-Inszenierung stehen ein Konzertflügel (frei nach Nietzsche: „Die Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik“) und – Koffer. Hunderte, stapelweise meterhoch als Bühnenhintergrund, vorne, seitlich, überall Koffer. Sinnbild für Wagners eigene tatsächliche Fluchten oder/und die seiner Protagonisten Wotan, Siegmund und Sieglinde, Brünnhilde? Oder doch auch eine vollkommen schiefe Vergegenständlichung gegenwärtiger Migrationsströme? Im digitalen Programmheft verweist der norwegische Regisseur auf seine „Rheingold“-Konzeption, die mit einer Gruppe Menschen auf der Flucht beginnt. Sie machen Rast an einem Klavier auf der sonst leeren Bühne und leiten hier ein Spiel ein, von dem Wotan im ersten Akt sagt: „Wandel und Wechsel liebt, wer lebt: Das Spiel drum kann ich nicht sparen.“ O-Ton Herheim: „Bei uns vollzieht sich dieses Spiel unter Flüchtigen, die keine Heimat mehr haben und diese nun im Mythos suchen.“ Warum allerdings hat Wotan seinen ersten Auftritt in Feinripp-Hemdchen und Unterhose? Wie verträgt sich das mit dem Brustpanzer und Flügelhelm Brünnhildes? Und warum kopulieren Zombies mit den Girlie-Walküren? Schließlich: Wo bitte hat Wagner geschrieben, daß Sieglinde ein behindertes Kind hat und ihm gegen Ende des erstes Aktes die Kehle durchschneidet?