© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 41/20 / 02. Oktober 2020

Männer sind Schweine
Unendlich traurig: Der Kinofilm „Niemals, selten, manchmal, immer“ begleitet zwei Jugendliche auf dem Weg zu einer Spätabtreibung
Dietmar Mehrens

Niemals, selten, manchmal, immer“ von Eliza Hittman ist eine Tragödie nach allen Regeln der dramatischen Kunst: Am Ende ist die Katastrophe eingetreten und die Hauptfigur tot. Am Anfang steht ein Dilemma, aus dem es wie für Antigone im gleichnamigen Sophokles-Klassiker keinen Ausweg gibt, jedenfalls keinen, bei dem die Heldin unbeschadet bleiben könnte. Und zwischen Anfang und Schluß hofft der Zuschauer, daß sich das drohende Unheil doch noch abwenden läßt.

Eliza Hittmans Protagonistin heißt nicht Antigone, sondern Autumn, übersetzt: Herbst. Und in trüben Dunkle-Jahreszeit-Bildern, die ihrer unheilschwangeren Milieustudie die passende Atmosphäre verleihen, erzählt die Regisseurin auch ihre Geschichte: die einer Teenagerin, die ein Kind erwartet und sich dafür entscheidet, es töten zu lassen.

Autumn (Sidney Flanigan) gehört zu denjenigen Mädchen, die sich Löcher durch die Nase stechen, um schöner zu werden. Ihren ersten Geschlechtsverkehr hatte sie mit 14 und in den drei Jahren danach fünf weitere Sexualpartner. Wer der Vater des Kindes ist, kann man nur erahnen. Vielleicht ist es der junge Bursche, der Autumn als „Schlampe“ beschimpft, während sie vor Zuschauern ein Lied vorzutragen versucht, das von der dunklen Seite der Liebe handelt.

Vertrauen hat sie nur zu einer Person: ihrer Cousine Skylar (Talia Ryder), die mit ihr zusammen im Supermarkt arbeitet. Sie stiehlt für Autumn das Geld, das für eine Abtreibung nötig ist, und begleitet sie auf ihrem schweren Weg von der tristen Kleinstadt in Pennsylvania in den New Yorker Großstadtdschungel. Seit die Demokraten 2019 ein beschönigend „Reproductive Health Act“ genanntes Gesetz durchboxten, ist dort eine Lizenz zum Töten des Fötus bis zur 24. Schwangerschaftswoche in Kraft. Wegen unvorhergesehener Unkosten geht den beiden in New York jedoch das Geld aus. Nun ist guter Rat teuer … 

Hittman, die auch das Drehbuch schrieb, orientiert sich stilistisch an dem britischen Regisseur Ken Loach, berühmt für seine naturalistischen Sozialdramen. Ihre leise, präzise Prekariatsstudie ist vollgepfropft mit Signalen männlichen Appetenzverhaltens. Männer zeigt sie als bedauerliche Opfer einer erbärmlichen Triebhaftigkeit, eines universellen libidinösen Kontrollverlusts: eine Anzüglichkeit hier, eine Zudringlichkeit da, eine obszöne Geste in Bus oder Bahn, primitive sexuelle Anspielungen sogar seitens des Vaters daheim.

Jeden Sinn für Anstand und Sittlichkeit verloren

Ein Männerbild kommt da zum Vorschein, das wirkt wie die entironisierte Überführung des „Ärzte“-Schlagers „Männer sind Schweine“ in bewegte Bilder. Hittman macht da weiter, wo #MeToo aufhört: Sie entlarvt minutiös eine grotesk übersexualisierte Gesellschaft, die, enthemmt und aufgereizt durch Darstellungen von Unzucht (griechisch „porneia“), die schnell und leicht verfügbar sind wie nie zuvor in der Menschheitsgeschichte, jeden Sinn für Anstand und Sittlichkeit verloren hat. Es wäre schön, wenn das eine weltfremde feministische Fiktion wäre. Doch die jüngsten Enthüllungen über exponentiell zunehmenden Kindesmißbrauch sprechen dagegen.

Den seltsamen Titel verdankt der Film seiner erschütterndsten Szene. Und das ist nicht etwa die von der umstrittenen Organisation „Planned Parenthood“ vermittelte Abtreibung. Deren blutige Details erspart die Regisseurin dem Zuschauer und zeigt sich hier weniger schonungslos als bei der Darstellung ihrer sozialen Ursachen. Die schockierende Schlüsselszene spielt sich in einem unscheinbaren Büro ab, in dem die 17jährige vor der euphemistisch gern Eingriff genannten Tötung ihres ungeborenen Kindes ein paar Routinefragen beantworten muß. Vier Antworten stehen jeweils zur Auswahl: niemals, selten, manchmal, immer. Es sind Fragen zur Rolle von fehlendem Einvernehmen, Druck, Zwang und Gewalt beim Vollzug des Beischlafs. Viel zu selten ist „nie“ die Antwort. Als Autumn das klar wird, kommen ihr die Tränen. 

In einer klassischen Tragödie bietet sich, bevor das Verhängnis seinen Lauf nimmt, ein rettender Ausweg an, eine Lösung, bei der niemand sterben muß. Dem entspricht die Möglichkeit einer Adoption, die die Schwangerenberatung Autumn in Aussicht stellt. Per Zufall gerät das Mädchen später in die Nähe einer christlichen Kundgebung: ein Deus ex machina, für den die Schwangere – und darin liegt ihre besondere Tragik – überhaupt keinen Blick hat. Die prekären Lebensumstände, das pathogene Milieu aus dumpfer Diesseitsbezogenheit und destruktivem Defätismus, in dem das Mädchen aufgewachsen ist, machen sie vollkommen unempfänglich für die Rettungsangebote der Religion.

Natürlich ist das nicht die einzige Lesart, die der mit dem Silbernen Bären der Berlinale ausgezeichnete Film anbietet, aber – das muß anerkannt werden – er zwingt seinem Betrachter auch keine andere auf. Seine Autorin hält sich an den ehernen Grundsatz: „Wer Kunst liebt, verzichtet immer auf Ideologie“ (Jonathan Meese). 

Eine klassische Tragödie endet mit dem Tod des Helden: desjenigen, der alles ausgelöst hat, um den sich alles dreht und über dem von Anfang an das bedrohliche Damoklesschwert schwebte. Den Überlebenden bleibt nur die Erkenntnis, wie sinnlos dieser Tod doch eigentlich war und wie unendlich traurig. Doch selbst die versinkt in Eliza Hittmans Sozialdrama in einem grauen Sumpf aus Trübsal und Stumpfsinn.