© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 41/20 / 02. Oktober 2020

Das Minderheitengesetz liegt im Abfallkorb
Schlesien: Warum vor 30 Jahren die deutschen Fahnen auf Halbmast gingen oder einen Trauerflor trugen
Paul Leonhard

Vor 30 Jahren gingen die deutschen Fahnen auf Halbmast. Vor den Sitzen der erst ab Januar 1990 begründeten Sozial-Kulturellen Gesellschaften in Ratibor und Oppeln, vor der Deutschen Gemeinschaft „Versöhnung und Zukunft“ in Kattowitz. Die schwarzrotgoldenen Fähnchen in den Vorgärten und auf den Balkonen in Groß Strehlitz, Beuthen, Gleiwitz und Hindenburg trugen einen Trauerflor. In den Herzen der Deutschen in Oberschlesien machte sich ohnmächtige Trauer breit. Die Menschen, die sich gerade erst voller Elan in unzähligen Deutschen Freundschaftskreisen zusammengefunden hatten, um das kulturelle und soziale Leben als Volksgruppe wiederzuentdecken, senkten enttäuscht die Köpfe. Große Betroffenheit herrschte in Carlsruhe O.S., Kandrzin-Cosel, Krappitz, Kreuzburg, Leobschütz, Neiße, Neustadt, Bad Königsdorff-Jastrzemb, Bielitz, Deutsch Piekar, Königshütte, Myslowitz, Ruda, Schwientochlowitz, Loslau, Tarnowitz, Teschen …

Sie alle kamen in den Ansprachen im fernen Berlin nicht vor. Dabeit zahlten sie letztlich den Preis für die deutsche Einheit, als die der Beitritt der DDR zur Bundesrepublik an jenem 3. Oktober 1990 gefeiert wurde. Noch bitterer stieß ihnen auf, daß die Politiker, die in salbungsvollen Reden die „Wiedervereinigung des deutschen Vaterlandes“ bejubelten, immer wieder den Mut der „Ostdeutschen“ für deren friedliche Revolution herausstellten.

In Kreisau Bundeskanzler Helmut Kohl zugejubelt

Dabei hatten die verbliebenen Ostdeutschen gar nicht rebelliert, sondern waren brav zur Arbeit in die Fabriken gegangen oder hatten ihre Äcker bestellt. Eine einzige kleine Machtprobe hatten sie gewagt, als sie am 12. November 1989 ins niederschlesische Kreisau gefahren waren, um dem deutschen Bundeskanzler zuzujubeln. Deutlicher als mit ihren „Helmut, Helmut“-Rufen und jenem Banner mit der Aufschrift „Helmut, Du bist auch unser Kanzler“ – geschrieben von einem polnischen Lehrer – konnte die Menge am Wegesrand dem schmächtigen polnischen Ministerpräsidenten Tadeusz Masowiecky nicht signalisieren: 44 Jahre versuchte „Repolonisierung“ in Oberschlesien sind gescheitert. Es gibt eine deutsche Volksgruppe. Ein jeder einzelne würde, wenn er dies wünsche, demnächst einen bundesdeutschen Paß ausgestellt bekommen.

In unruhigen Zeiten sollten die Pässe der vier Jahrzehnte unterdrückten und in ihrer Existenz geleugneten deutschen Volksgruppe in Oberschlesien wenigstens ein wenig Schutz garantieren. Das war der Deal vom 9. November 1989, den die Minderheitenvertreter Kohl in Warschau abgehandelt hatten, also in jenem Moment, in dem dieser die

schier unglaubliche Nachricht erhielt, die Berliner Todesmauer sei gefallen: Status quo. Die Oberschlesier würden in ihrem Siedlungsgebiet bleiben, wenn sie die Pässe bekämen.

Interessanterweise akzeptierte die polnische Regierung diesen einzigartigen Vorgang, der ihr plötzlich 350.000 Deutsche in Regionen bescherte, in denen es wenige Monate zuvor nach statistischen Angaben keinen einzigen gab. Und es sollte auch noch bis 1991 dauern, bis Warschau die Deutschen als nationale Minderheit offiziell anerkannte und bis 1997, als die Förderung der Kultur und Sprache „nationaler und ethnischer Minderheiten“ durch Artikel 35 in der polnischen Verfassung festgeschrieben wurde.

Im Herbst 1989 mußte die polnische Regierung jedenfalls feststellen, ein Opfer ihrer eigenen Propaganda geworden zu sein. Diese hatte 1945 begonnen, als man zwar 40 Prozent der in Oberschlesien Ansässigen nach Westen vertrieb, die Mehrheit aber aus ethnischen und ökonomischen Gründen als „germanisierte Polen“ einstufte, die es jetzt zu repolonisieren galt. Die Mittel dazu waren das rigorose Verbot der deutschen Sprache, also nicht nur im öffentlichen Leben Schulen, Kirchen und Arbeitsstätten, sondern auch in den Familien. Im Gegensatz zu allen anderen Teilen Polens war es in Oberschlesien untersagt, Deutsch als Fremdsprache zu unterrichten.

So wuchs eine junge Generation heran, die kaum noch der deutschen Sprache mächtig war, in deren Herzen und Seelen aber dank Eltern und Großeltern die deutsche Kultur bewahrt wurde, vor allem in Form deutscher Volkslieder. Während Warschau für kurze Zeit konsterniert nachsann, wie mit diesem neuen Phänomen einer Minderheit im Nationalstaat Polen umzugehen sei, lieferten die deutschen „Leitmedien“ mit dem Stichwort „Fünfte Kolonne“ und dem Hinweis auf die „Ewiggestrigen der Berufsvertriebenen“ die entscheidende Interpretation. So schwadronierte die Zeit von der Wiedervereinigung von „Heimatvertriebenen und Heimatverbliebenen“. Der Spiegel echauffierte sich über die schier unglaublichen Forderungen der Minderheit, so nach einem obligatorischen Deutschunterricht an allen Schulen Oberschlesiens und einem „Heimat- und Wiederkehrrecht“ der Vertriebenen.

Endgültig aus ihrem Vaterland ausgegrenzt

Gewiß träumte der eine oder andere Oberschlesier mit Blick auf die ihre Wiedervereinigung mit den Westdeutschen vorbereitenden Mitteldeutschen von einer Rückkehr seiner Heimat in die Republik, um aber dann die Augen zu öffnen, einen Blick auf die Landkarte zu werfen und einen weiteren in die Zeitungen, wo vom französischen und britischen Widerstand gegen das Selbstbestimmungsrecht des deutschen Volkes geschrieben wurde. Die Zukunft der deutschen Volksgruppe lag, wie es der Europapolitiker Otto von Habsburg bereits auf der Europa-Kundgebung am 20. Juli 1990 in Lubowitz verkündet hatte, in einem geeinten Europa. Nur in diesem, so machten auch der Ratiborer Abt Adalbert Kurzeja, Pater Johannes Leppich, Herbert Hupka und BdV-Generalsekretär Hartmut Koschyk den 15.000 vor der Ruine des Eichendorff-Schlosses versammelten Oberschlesiern Mut, werde das Leben in der Heimat für die Gebliebenen wieder lebenswert.

Daß sie endgültig aus ihrem Vaterland ausgegrenzt waren, bekamen die Oberschlesier zwei Monate später schwarz auf weiß: In der geänderten Präambel des Grundgesetzes vom 23. September 1990 stand jetzt, was bereits mit den Unterschriften unter den Zwei-plus-Vier-Vertrag völkerrechtlich vollzogen worden war, daß „die Einheit ... Deutschlands vollendet“ sei. Die territoriale Souveränität des Königsberger Gebiets war damit an die Sowjetunion und die der übrigen Ostgebiete an Polen abgetreten, die Oder-Neiße-Grenze festgeschrieben. Die politische Kraft der Bundesrepublik reichte nicht einmal aus, es fehlte wohl auch der politische Wille und der demographische Druck, für die Oberschlesier einen Autonomiestatus nach dem Vorbild Südtirols durchzusetzen.

Spätestens ab 2004, also dem EU-Beitritt Polens, hätte sich die junge Generation der Heimatvertriebenen tatsächlich auf den Weg ins Land ihrer Vorväter begeben können, und nicht nur wie der aus Breslau stammende SPD-Berufsfunktionär Wolfgang Thierse wandernderweise. Legendär blieb die 1990 gestotterte und ins allgemein politische abgleitende Antwort eines der bekanntesten Vertriebenenfunktionäre, des CDU-Bundestagsabgeordneten Herbert Czaja auf eine Frage eines Journalisten auf einer Pressekonferenz in Dresden „Na, Herr Czaja, die Koffer schon gepackt?“

Wie die Bundesrepublik keinen Plan für eine mögliche Wiedervereinigung mit der DDR hatte – zu den letzten Politikern von Rang, die tatsächlich an diese noch geglaubt hatten, gehörte der leider zu früh verstorbene bayerische Ministerpräsident Franz Josef Strauß –, so hatten auch die Vertriebenenfunktionäre für den jetzt eingetretenen, völkerrechtlich von der Bundesrepublik anerkannten Verlust des früheren deutschen Ostens, bei sich gleichzeitig abzeichnender Öffnung jener Gebiete im Zuge eines gemeinsamen europäischen Hauses weder eine Vision noch konkrete Ideen.

Es entstand auch kein Druck seitens der Landsmannschaften. Was vier Jahrzehnte lang auf einst mächtigen, dann immer kleiner werdenden Kundgebungen und Treffen gefordert wurde, das „Recht auf Heimat“, war zu einer leeren Floskel geworden.

Nur wenige schlugen tatsächlich den dornenreichen Weg der Rückkehr ein, kauften vom polnischen Staat ihre einstigen Familiensitze zurück, versuchten einen Neuanfang in der Heimat ihrer Vorfahren. Kein Schaffgotsch darunter, denen doch bis 1945 fast ganz Schlesien gehörte, kein Richthofen. Immerhin: Im Hirschberger Tal erwarb das junge Ehepaar von Küster das verfallene Schloß zurück – der Erwerb von Ackerland war Deutschen noch immer untersagt – und baute es im zähen Ringen mit den polnischen Behörden Schritt für Schritt zu einem heute florierenden Hotel aus.

Und in Oberschlesien? Im westlichen Teil künden mehr als 340 zweisprachige Ortsschilder (20 Prozent der Einwohner müssen sich zu ihrem Deutschtum bekennen) von einer lebendigen, wenn auch laut nationalem Zensus von 2011 auf 148.000 Menschen (ethnische Identität deutsch) geschrumpften Volksgruppen, die beharrlich auf Umsetzung ihrer Minderheitenrechte drängt. Denn nach wie vor tun sich die polnischen Behörden schwer damit, deutschsprachige Bildungseinrichtungen anzuerkennen. Es gibt sogar Rückschläge, wie die drastische Reduzierung des Deutschunterrichtes in den Grundschulklassen 7 und 8.

Minderheitenrechte stoßen auf taube Ohren

Noch immer stellt sich der polnische Staat stur, wenn es beispielsweise um seine Pflicht geht, „in den Siedlungsgebieten der deutschen Minderheit Schulen mit der Unterrichtssprache Deutsch aufzubauen“, kritisiert Bernard Gaida (62), seit 2016 Sprecher der Arbeitsgemeinschaft Deutscher Minderheiten in Europa. Besonders deutlich werde das, wenn man die Situation der Oberschlesier mit der der Deutschen in Rumänien oder der Polen in Litauen vergleicht, die „jeweils über ein komplettes Schulnetz vom Kindergarten bis zur Hochschule in ihrer jeweiligen Muttersprache“ verfügen.

Noch drastischer äußert sich der Abgeordnete der Deutschen Minderheit, Ryszard Galla: „Wir haben zwar seit 15 Jahren ein Minderheitengesetz, doch seien wir einmal ehrlich: Es ist ein Gesetz, das der Präsident in den Abfallkorb geworfen hat.“

Äußerungen, vor denen man in Berlin beide Ohren fest verschließt. Denn es liegt auch in der Verantwortung der Bundesregierung, für eine effizientere und bessere Vermittlung der deutschen Sprache an Jugendliche der deutschen Volksgruppe in Polen zu sorgen, die zudem meist über die deutsche Staatsangehörigkeit verfügen.

Im heutigen Deutschland sind aber weder die wechselvolle Geschichte Oberschlesiens noch die Probleme der deutschen Volksgruppe mitten in Polen interessant. Wie soll man derartiges auch vermitteln in einer geschichtsvergessenen Republik, in der die Einwohner von Dresden, Erfurt, Magdeburg oder Potsdam als Ostdeutsche bezeichnet werden? Und zwar nicht in der Bedeutung des Kalten Krieges, sondern in geographischer Hinsicht.