© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 41/20 / 02. Oktober 2020

„Lieber tausend lebende Seeleute als tausend tote Helden“
Marineoffizier in drei Systemen: Der Militärhistoriker Hans-Jürgen Kaack entdeckt den „Admiral Graf Spee“-Kommandanten Hans Langsdorff als Figur der Zeitgeschichte
Oliver Busch

Am 21. August 1939 lief die „Admiral Graf Spee“ aus Wilhelmshaven aus, um Kurs auf den Südatlantik zu nehmen. Für den zu diesem Zeitpunkt schon höchst wahrscheinlichen Fall einer gewaltsamen Lösung des deutsch-polnischen Konflikts, die ein Eingreifen Englands und Frankreichs nach sich ziehen würde, sollte das unter dem Kommando von Kapitän zur See Hans Langsdorff stehende Panzerschiff die feindlichen Seeverbindungen von Südamerika und Afrika nach Europa bedrohen und unterbrechen. 

Als am 3. September 1939, zwei Tage nach dem deutschen Angriff auf Polen, die Kriegserklärungen aus London und Paris in Berlin eingingen, hatte die „Graf Spee“ das ihr zugewiesene Operationsgebiet zwischen der brasilianischen Ostküste und der Insel St. Helena fast erreicht und drei Wochen später den Befehl zur „freien Jagd“. Die verlief bis Anfang Dezember recht erfolgreich: acht britische Frachter und ein Tanker, mit zusammen 52.000 Bruttoregistertonnen, wurden völkerrechtskonform aufgebracht und versenkt, ihre Besatzungen unverletzt geborgen. 

Karriereweg Langsdorffs als Beispiel des Marineoffiziers 

Das gehobene Kreuzfahrtatmosphäre ausstrahlende Tropenabenteuer, inbegriffen ein Abstecher vor die Küste Mosambiks, endete jäh und blutig am 13. Dezember 1939 in der Früh, als der deutsche „Handelsstörer“, 300 Seemeilen östlich der La-Plata-Mündung, auf drei britische Kreuzer traf und ihnen ein unglückliches Gefecht lieferte. Zwar landete die überlegene Artillerie der „Graf Spee“ schwerste Treffer und nötigte den Gegner zum Abdrehen, doch selbst hatte man außer 36 Gefallenen empfindliche Schäden an neuralgischen Punkten des Schiffes wie der Ölreinigungsanlage zu beklagen, die Langsdorff zwangen, Montevideo anzusteuern. 

Da die Regierung Uruguays, auf englischen Druck hin, ihm die erbetene Werfthilfe verweigerte, entschloß er sich, auf einen militärisch sinnlosen Ausbruch aus der Mausefalle am Rio de la Plata, vor der sich die Verfolger sammelten, zu verzichten, die „Graf Spee“ nicht der Marinetradition gemäß mit „wehender Flagge“ untergehen zu lassen, sondern sie im Flachwasser des Mündungsbereichs zu sprengen und die 1000köpfige Besatzung vollständig ins deutschfreundliche Argentinien zu evakuieren. Nach diesem Husarenstück erschoß sich Hans Langsdorff am 20. Dezember 1939 in einem Hotel in Buenos Aires – um die „deutsche Ehre“ zu wahren. Seine Entscheidung zur Selbstversenkung soll er damit begründet haben, daß ihm tausend lebende Seeleute lieber seien als tausend tote Helden.

In der Geschichte des Zweiten Weltkrieges ist das Schicksal der „Admiral Graf Spee“ und ihres Kommandanten nur eine Fußnote. Trotzdem formt Hans-Jürgen Kaack, Jahrgang 1942, als Ruhestandsbeamter zum passionierten Marinehistoriker gereift, daraus ein mit 672 Seiten üppiges Kilo Buch. Da diese Fleißarbeit keinem politisch auffällig gewordenen Admiral der Preisklasse Tirpitz oder Dönitz, sondern eben der Biographie eines Kapitäns zur See galt, der in der Rangliste tief unter ihnen stand und dem im Dezember 1939 allenfalls eine gefühlte Minute Weltruhm vergönnt war, stellt sich die Frage: Führt die Wahl eines solchen Gegenstandes nicht zwangsläufig zum Mißverhältnis  von Aufwand und Ertrag?

Nicht wenn man so vorgeht wie Kaack, der im individuellen Lebens- und Karriereweg Hans Langsdorffs die Kollektivbiographie des deutschen Seeoffizierskorps spiegeln will. Das ist ein ambitioniertes Unterfangen, das der Autor nur wagte, weil ihm die Familie unzensierte Einblick in eine einzigartige Quelle gewährte: in die für die Zeit von 1912 bis 1934 fast einem Tagebuch gleichenden 150 Briefe und Postkarten, in denen Langsdorff seinen Eltern ausführlich Dienstliches und Privates berichtete. Anhand dieses Relikts bildungsbürgerlicher Briefkultur befriedigt Kaack sein vordringliches Erkenntnisinteresse, das sich darauf richtet, ein „dichtes Bild der Persönlichkeit eines Seeoffiziers nachzuzeichnen“, um exemplarisch die Sozial-und Mentalitätsgeschichte einer Funktionselite des Deutschen Reichs über drei politische Systeme hinweg zu rekonstruieren.

Langsdorffs NSDAP-Distanz hielt auch nach 1933 an

Ausgangspunkt der Durchleuchtung der für Langsdorff, der 1912 sofort nach dem Abitur in die Kaiserliche Marine eintrat, jahrzehntelang verhaltensprägenden Wertvorstellungen ist der Entschluß, seine Besatzung zu retten statt sie zu opfern und um der Ehre willen den Freitod zu wählen. Kaack sieht darin die Konsequenz einer moralischen Disposition und eines mutigen Handelns, das dem „Respekt vor der unantastbaren Würde des Menschen entsprang“, das  Humanität über funktionale Professionalität stellte und für das sich in der preußisch-deutschen Militärgeschichte kaum Beispiele fänden. Nicht von ungefähr lasse sich daher Langsdorffs „persönlicher Code of Honour“ mit der Haltung vergleichen, die Henning von Tresckow am Tag nach dem 20. Juli 1944 in die Worte faßte: „‚Der sittliche Wert eines Menschen beginnt erst dort, wo er bereit ist, für seine Überzeugung sein Leben hinzugeben.“

Es ist offensichtlich, daß sich der Autor mit der Behauptung der Singularität von Langsdorffs Charakter und Tat einerseits, der Ankündigung andererseits, ihn als prototypischen deutschen Seeoffizier zu schildern, ein verzwicktes Darstellungsproblem auflädt. Das er zu lösen versucht, indem er im breiten Strom des Konventionellen, in dem diese Biographie schwimmt, mit detektivischer Akribie Abweichungen vom ideellen Normengerüst der Kameraden aufspürt. 

Das erste Aus-der-Rolle-Fallen registriert Kaack kurz nach der Novemberrevolution in Bremerhaven. Für ihn entfaltet sich hier schon das Handlungsmuster von Montevideo. Karabiner im Anschlag, verlangen Mitglieder des Soldatenrats, die auf Langsdorffs Minensuchboot wehende Kaiserliche Kriegsflagge niederzuholen. Da „sinnloser Widerstand zu Mord und Totschlag“ geführt hätte, gab er „zähneknirschend den Befehl, Flagge und Stander niederzuholen“. Von da ab justiert der Oberleutnant zur See seinen inneren Kompaß neu. Er quittiert nicht den Dienst, wie viele ältere Offiziere, er schließt sich keinem Freikorps an, wie viele jüngere Kameraden, sondern steigt als loyaler Diener der Weimarer Republik, als „Staatsbürger in Uniform“ avant la lettre, in der neuen Reichsmarine relativ rasch auf. 

Trotzdem habe er sich, ein Urteil, das Kaack aus eindringlicher Analyse brieflicher Kommentare zu den Feierlichkeiten anläßlich der Einweihung des Seeoffizier-Ehrenmals in der Marineschule Mürwik im Juni 1923 gewinnt, von der auf Revanche fixierten Hochstimmung seiner Umgebung nicht mitreißen lassen. Seine reservierten Äußerungen verrieten stattdessen seine „eigenartige Ambivalenz, geprägt von der Suche nach kameradschaftlicher Nähe und individueller Abgrenzung“. Die „Prioritäten des ganz persönlichen Werthorizonts“ träten dabei hervor, die für den frisch verlobten Offizier lauten: „Über allem steht für ihn die Marine. Noch darüber seine zukünftige Ehefrau.“ 

Offenkundig bestrebt, der deutschen Marine, der oktroyiert worden ist, zu vergessen, daß „Zukunft Herkunft braucht“ (Odo Marquard), ein Vorbild zu empfehlen, überreizt der Autors hier seine partiell durchaus überzeugende Darstellung des „Vernunftrepublikaners“ im blauen Tuch. Und verdunkelt damit das große Verdienst seines Werkes, Langsdorff jenseits des „Spee“-Unternehmens als zeithistorische Figur entdeckt zu haben. Von 1925 bis 1927 und wieder von 1931 bis 1935 war er nämlich als Vertreter der Marineleitung in der Wehrmachtabteilung, dem „militär-politischen Staatssekretariat“ des Reichswehrministeriums tätig. Unter Oberst Kurt von Schleicher, dem er während der Agonie der Republik noch als Adjutant zur Seite stand, als der 1932 zum Reichswehrminister und dann sogar zum Reichskanzler aufrückte. Damals nahm der dezidierte „Anti-Nazi“ Langsdorff an allen „Querfront“-Manövern teil, mit denen Schleicher Adolf Hitlers Kanzlerschaft verhindern wollte. Auch in dieser Position konturiert Kaack jedoch eher den Dissidenten, der, anders als die Mehrheit in der Marineführung, nach der Machtergreifung nicht umschwenkte und überzeugt blieb, die NSDAP sei unfähig, für „das Ganze“ zu sorgen. Blaß läßt er indes wieder den politischen Soldaten aussehen, der wie Schleicher überhaupt keine Partei, sondern Beamtenschaft und Militär für die wahren Sachwalter des Gemeinwohls hielt.

An der sich daraus ergebenden Option für Schleichers sozialpatriotischen, autoritären, nach außen und innen souveränen Machtstaat, der ohne Parteien und Parlament auskommt, wird Kaacks Hoffnung scheitern, eine vom Ungeist der „Traditionserlasse“ gebeugte Deutsche Marine werde jemals einer Pier oder gar einem Schiff die Ehre erweisen, den Namen Hans Langsdorffs zu tragen. 

Hans-Jürgen Kaack: Kapitän zur See Hans Langsdorff. Der letzte Kommandant des Panzerschiffs Admiral Graf Spee. Eine Biographie. Ferdinand Schöningh Verlag, Paderborn 2020, 672 Seiten, Abbildungen, 68 Euro