© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 41/20 / 02. Oktober 2020

Der Flaneur
Die Pinte wird zur Bude
Gil Barkei

Sie war die letzte Kneipe im Straßenzug, nachdem die Eckpinte bereits Mitte der Neunziger dichtgemacht hatte. So entwickelte sie sich zu einem Treffpunkt der Nachbarschaft – geführt von Vater und Sohn, die zusammen viel Sport machten, selbst nicht zu den besten Kunden wurden und auf eine gute Durchmischung des Publikums achteten. Mit den einen sprachen sie mehr und tiefgründiger, die anderen ließen sie in Ruhe. So saßen Schüler neben Rentner und Arbeiter neben Studenten. Mit Freunden spielten wir hier öfters Billard oder nahmen nach durchzechter Diskonacht noch einen Absacker. 

Die Betreiberfamilie hatte noch eine Kneipe in Neukölln, aber irgendwann blieb nur noch das Lokal bei uns übrig: „Die Araber haben schon damals dort Druck gemacht“, erzählte der Senior einmal. Zu den Drohungen kamen absichtlich beschmutzte Klos und zerstörte Einrichtungsgegenstände: „Irgendwann haste da keine Lust mehr drauf!“ Zumal die Konkurrenz durch Hipsterbars hinzukam.

Mit Rigipswänden wurden mehrere kleine Zimmer oder Wohneinheiten eingebaut.

Und dann war auch mit der Schenke bei uns im Viertel Schluß – diesmal freiwillig, den Lebensabend vor Augen. Übergabe an einen neuen Wirt: Der hatte jedoch nicht so ein geschicktes Händchen mit den Gästen, so daß die verrauchten Automatenspieler, die schon mittags beim Weinbrand saßen, die Oberhand gewannen. Kunden blieben aus. Nun ist das Lokal ganz weg. Stattdessen wurde eine Unterkunft für Migranten in die Räumlichkeiten gebaut. Vor dem alten Eingang hat man mit Heckenkästen und einem hochgezogenen Holzzaun einen Vorbereich geschaffen, der von der alten Markise überdacht wird, auf der der Kneipenname einfach überklebt wurde. Das große Fenster, in dem früher die Bierschilder hingen, ist mit Vorhängen zugezogen. Doch durch einen grell erleuchteten Spalt kann man erkennen, daß in den Innenraum anscheinend mit Rigipswänden mehrere kleine Zimmer oder sogar Wohnheiten hineingebastelt wurden. Ein Bier wäre jetzt wirklich schön … oder am besten gleich zehn.