© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 42/20 / 09. Oktober 2020

Lesereinspruch

Hypertrophes Latein

Zu: „Unter die Planierraupe beugen“ von Heinz-Joachim Müllenbrock (JF 40/20)

Daß Anglist Müllenbrock „seine“ Anglizismen als überflüssig, ja schädlich brandmarkt, bezeugt ergebnisoffene Selbstbetrachtung. Nicht so besorgt scheint er beim eigenen Umgang mit Latinismen. Warum mutet er dem Leser Ausdrücke wie „Faktizität“, „Vitalität“ und Gräzismen wie „Hypertrophie“ zu? Warum nicht „Tatsache, Gegebenheit“, „Spannkraft“ und „Überfülle“? Warum „konstatiert“ er mehrfach und stellt nicht einfach fest? Man mag einwenden, daß der deutsche Ausdruck den fremdwörtlichen Begriff nicht abbilde; doch dies rührt daher, daß man dem Fremden sehenden Auges das (Bedeutungs-)Feld überließ. Leider ist der Englischkenner hier selber Opfer seines Forschungsgegenstandes. So erwähnt er die „German linguistic submissiveness“ und übersetzt es richtig mit sprachlichem Demutsverhalten. In der Tat deckt „linguistic“ die Wortfelder „linguistisch, d.h. sprachwissenschaftlich“ und „sprachlich“ ab. In der vorhergehenden Spalte spricht er von der „linguistischen Mannigfaltigkeit“, wo er „sprachlich“ meint. Hier verwendet er „linguistisch“ wie im Englischen – also ein unpassender Anglizismus.

Jens Görtzen, Rendsburg