© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 42/20 / 09. Oktober 2020

Ländersache: Sachsen
Alles gehört auf den Prüfstand
Paul Leonhard

Für Eiapopeia war Arnold Vaatz (CDU) noch nie zu haben. Der Mann ging schon immer mit dem Kopf durch die Wand. Als Staatsminister – Sachsen-Premier Kurt Biedenkopf mußte es bald einsehen – war der undiplomatische Mann daher Anfang der Neunziger keine Idealbesetzung. Der richtige Ort für den streitbaren Demokraten war fortan der Bundestag, in den er sich stets direkt wählen ließ. Und wäre es 30 Jahre nach der deutschen Einheit um die demokratischen Grundrechte, speziell um die Meinungsfreiheit, gut bestellt, hätte Landtagspräsident Matthias Rößler vielleicht nicht seinen Parteifreund bemühen müssen, auch wenn dieser als ehemaliger Sprecher des Neuen Forums für die Sachsen die bekannteste Persönlichkeit auf dem Weg zur Wiedergründung des Freistaates und zur Einheit ist. 

In seiner Rede erinnerte der 65jährige an die Schwierigkeiten, die der Deutschen Einheit vorangegangen waren. An einen Egon Bahr, der allein das Reden über eine mögliche Wiedervereinigung als „politische Umweltverschmutzung“ bezeichnet hatte, an die mit der SED kuschelnde Chefredaktion der Zeit und ein „mediales Klima“ im Westen, das „überwiegend wiedervereinigungsfeindlich“ war. „Ein Bundeskanzler, der 1990 die deutsche Wiedervereinigung hätte verhindern wollen, hätte es leichter gehabt als einer, der diese deutsche Einheit anstrebte“, würdigte Vaatz die Verdienste Helmut Kohls, der die Einheit wollte und dafür sorgte, daß „sich Europa mit der deutschen Wiedervereinigung abfand“. Kohls Prognose von „blühenden Landschaften“ sei „weit über das damals vorstellbare Maß Wirklichkeit geworden“. Zugleich schilderte Vaatz minutiös den Aufbau des Freistaates Sachsen vor 30 Jahren.

Der Respekt vor dem Geleisteten gebiete es, so Vaatz, „eine technologieoffene, vorurteilsfreie und weltoffene Suche nach dem besten Weg für unser Land“ zu suchen, eine „ergebnisoffene Debatte, die politische Entscheidungen jederzeit auf den Prüfstand“, aber niemanden an den Pranger stelle. Konkret nannte er die Energiepolitik der Bundesregierung, die Vor- und Nachteile der Kernenergienutzung, die Gefahren der Verschuldungspolitik, die Wirksamkeit der Entwicklungspolitik, die unnütze Bürokratie, die saubere Trennung von Asyl- und Einwanderungspolitik.

Den bemerkenswertesten Satz, der beim Festakt an diesem 3. Oktober im Sächsischen Landtag gesprochen wurde, äußerte aber nicht Festredner Arnold Vaatz, sondern Ministerpräsident Michael Kretschmer: Das, wofür man 1989 gekämpft habe, wäre vergebens, wenn sich diejenigen durchsetzten, die nicht mehr zuhören wollen. Bezeichnenderweise meinte der CDU-Politiker damit seine beiden kleineren Koalitionspartner, die Sozialdemokraten und die Bündnisgrünen. Denn deren Landtagsabgeordnete – die der Linkspartei sowieso – hatten ausnahmslos ihre Drohung wahrgemacht, die Festveranstaltung zu boykottieren, falls Vaatz spreche. 

„Eine Gesellschaft, die nur in Überschriften denkt, nur Haltungen und Bekenntnisse abfordert, wird keine Zukunft haben“, mahnte Kretschmer. Der Ministerpräsident richtete diese Worte  im Landesparlament an der Elbe indes ausschließlich an Volksvertreter, die zusammen die übergroße Mehrheit der sächsischen Wähler vertreten: die von CDU und AfD.