© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 42/20 / 09. Oktober 2020

Das böse Erwachen kommt noch
Rente und Beamtenpensionen, Flüchtlingskosten, Hartz IV: Die Sozialausgaben steigen enorm – und es gibt in der Zukunft versteckte Kosten
Michael Paulwitz

Mehr als eine Billion Euro. So hoch waren die kumulierten Sozialausgaben der öffentlichen Haushalte, der Sozialkassen und Versorgungswerke im vergangenen Jahr. Der Anteil der Sozialleistungen am gesamten Bruttoinlandsprodukt der deutschen Volkswirtschaft hat mit der Billionengrenze erstmals zugleich auch die 30-Prozent-Marke überschritten.

Im laufenden und kommenden Jahr werden beide Kennzahlen absehbar noch drastischer nach oben gehen. Die von Bundes- und Länderregierungen aus Anlaß der Corona-Pandemie ergriffenen Maßnahmen heizen die Entwicklung zusätzlich an. Dem Virus die Hauptschuld zuzuschieben wäre dennoch ein Ablenkungsmanöver.

Seit vielen Jahren kennen die deutschen Sozialausgaben konstant nur einen Weg: nach oben. In den vergangenen fünf Jahren sind sie viermal deutlich stärker gewachsen als die Gesamtwirtschaftsleistung des Landes. Mit anderen Worten: Der Sozialstaat wächst kontinuierlich schneller, als die deutsche Volkswirtschaft es sich leisten kann.

Das spiegelt sich auch im Bundeshaushalt. Traditionell ist der Etat des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales (BMAS) der größte Haushaltsposten. Knapp 164 Milliarden Euro sind dafür im Budgetentwurf für 2021 vorgesehen – fast vierzig Prozent des gesamten Bundeshaushalts. Das sind noch einmal deutlich mehr als die ursprünglich für 2020 angesetzten rund 150 Milliarden Euro, die durch die beiden Corona-Nachtragshaushalte bereits auf mehr als 170 Milliarden Euro gestiegen sind. Bis 2023 werden die Sozialausgaben des Bundes auf 200 Milliarden anwachsen und die Hälfte des Gesamthaushalts übersteigen.

Der BMAS-Etat besteht im wesentlichen aus zwei Kostenblöcken: Zuschüsse an die Rentenkassen und Absicherung von Arbeitslosen. Insgesamt sollen im kommenden Jahr 44,5 Milliarden Euro für die Grundsicherung für Arbeitslose ausgegeben werden, davon 23,4 Milliarden für das Arbeitslosengeld II, also „Hartz IV“.

Daß die Zahlen im Haushalt gegenüber 2020 leicht zurückgehen, ist kein Anlaß zum Aufatmen. Zahlreiche Unwägbarkeiten sind in den Etatentwurf gar nicht erst eingepreist – sei es, weil sie kaum vorhersagbar sind, sei es, weil die Politik bewußt davor die Augen verschließt. Insbesondere die Auswirkungen der durch die Corona-Maßnahmen verursachten Rezession machen sich erst mit Verzögerung bemerkbar.

Die Bundesregierung hat in der Krise das Kurzarbeitergeld erhöht und die Bezugsmöglichkeit auf 24 Monate bis nach der Bundestagswahl 2021 verlängert. Faktisch wird das Kurzarbeitergeld dadurch zum verschleierten Arbeitslosengeld. Derzeit werden dafür noch die Rücklagen der Arbeitsagentur geplündert. Sind diese erschöpft, ist wiederum der Bundeshaushalt gefordert.

Die Erwartung, die Kosten von Arbeitslosigkeit zu dämpfen, hat die Hartz-IV-Reform von 2005 nicht erfüllt. Tatsächlich sind die Kosten laufend gestiegen. Schon nach einem Jahr „Hartz IV“ stand fest, daß der Bund dafür mehr ausgibt und bei den Beziehern weniger ankommt als während der Zeiten von Sozial- und Arbeitslosenhilfe. Die Zusammenlegung hat die Ansprüche von Arbeitslosen, insbesondere von Langzeitarbeitslosen, durch schnellere Herabstufung beschnitten, während sie für viele Sozialhilfebezieher eine Verbesserung bedeutete. Das macht die Sozialleistung insbesondere für jene attraktiv, die nie zur Finanzierung der Solidargemeinschaft beigetragen haben und dies auch nicht beabsichtigen, während lebenslange Einzahler klar zu den Verlierern gehören.

Gesamtkosten von halber Million pro Asylmigrant

Die anfangs durchaus zu beobachtende „Bremswirkung“ der Hartz-Reformen auf den Anstieg der Sozialausgaben ist nicht zuletzt durch die massive Ausweitung der Migration nach Deutschland längst aufgezehrt. Jeder zweite erwerbsfähige Hartz-IV-Bezieher ist inzwischen Ausländer. Die Ansprüche ausländischer Bezieher haben sich von 2007 bis 2019 auf knapp 13 Milliarden Euro fast verdoppelt, wie eine Anfrage des AfD-Sozialpolitikers René Springer an den Tag brachte. Aus offiziellen Zahlen läßt sich ableiten, daß rund die Hälfte dieser Zahlungen inzwischen auf Asyl-Zuwanderer entfällt. Während der Anteil dieser Klientel an den Hartz-IV-Empfängern binnen weniger Jahre nach 2015 um rund eine Million stieg, nahm die der einheimischen Bezieher zeitgleich deutlich ab; nur deshalb sind die Gesamtzahlen einigermaßen stabil.

Während die Lenkungswirkung des Hartz-IV-Systems in Richtung Arbeitsaufnahme sich also offenkundig vor allem bei Einheimischen entfaltet, wirkt dieses Versorgungssystem wie ein Magnet auf Sozialmigranten, die bereits nach kurzer Übergangsfrist einheimischen Sozialfällen gleichgestellt sind. Auch wer nach dem Asylbewerberleistungsgesetz versorgt wird – darunter fallen auch Hunderttausende abgelehnte, aber geduldete Asylbewerber –, wird kaum schlechter gestellt.

Die 64,5 Milliarden Euro, die die Bundesregierung als „Flüchtlingskosten“ für die nächsten vier Jahre ansetzt, sind daher nur ein kleiner Teil der auf zahlreiche Haushaltsposten verteilten Migrationskosten. Die direkten Aufwendungen in den Haushalten von Bund und Ländern lassen sich allein für die letzten fünf Jahre auf rund 200 Milliarden Euro schätzen.

Selbst wenn künftig mehr Asylzuwanderer eine Beschäftigung aufnehmen, bleibt die volkswirtschaftliche Gesamtbilanz negativ. Der Ökonom Bernd Raffelhüschen schätzt die Gesamtkosten pro Migrant vorsichtig auf knapp eine halbe Million Euro. Allein die Asylmigration der letzten fünf Jahre schlüge damit mit einer satten Billion negativ zu Buche. Der Zustrom hält auf niedrigerem Niveau weiter an und wird durch Sekundärmigration per Familiennachzug verstärkt. Der mit Abstand größte Einzelposten im Bundeshaushalt sind die Ausgaben für „Rentenversicherung und Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung“: 114,6 Milliarden Euro sind hier für 2021 angesetzt – eine Steigerung um weitere fünf Milliarden Euro gegenüber dem laufenden Jahr. Der Bundeszuschuß macht fast siebzig Prozent des Etats des Arbeits- und Sozialministeriums oder mehr als ein Viertel des gesamten Bundeshaushalts aus.

Bilanzkosmetik bei           Gesundheit und Pflege

Das Ende der Fahnenstange ist damit noch lange nicht erreicht. Dafür sorgt schon der demographische Niedergang. Bei Einführung der umlagefinanzierten Rente kamen sechs Personen im erwerbsfähigen Alter von 20 bis 65 Jahren auf einen Rentner; aktuell sind es weniger als drei, und bis 2040 werden voraussichtlich zwei Erwerbstätige für einen Rentner aufkommen müssen.

Trotz hoher staatlicher Zuschüsse sind Deutschlands Rentner beim Versorgungsniveau Schlußlichter in Europa. Die Einrichtung eines Demographiefonds, um für die steigenden Ansprüche einer alternden und längerlebigen Bevölkerung vorzusorgen, wurde oft diskutiert, aber nie realisiert. Den viel zu zaghaften Versuch, vom kommenden Jahr an wenigstens zwei Milliarden jährlich für solche Zwecke zurückzulegen, hat Bundesarbeitsminister Hubertus Heil in seinem soeben vorgelegten Etatentwurf stillschweigend wieder kassiert.

Statt dessen hat man sich durch die üppig fließenden Steuereinnahmen der letzten Jahre verleiten lassen, laufend neue ungedeckte Wechsel auf künftige Steuerzahlergenerationen auszustellen. Mütterrente, „Respektrente“ ab 63 nach 45 Beitragsjahren und Grundrente können den damit verbundenen Gerechtigkeitsanspruch nicht einlösen, weil sie nicht seriös gegenfinanziert sind.

Weil das Steuerniveau in Deutschland Rekordhöhe erreicht hat und die geburtenstarken Jahrgänge auf dem Höhepunkt ihrer Berufslaufbahn stehen, konnte der Fiskus jahrelang aus dem Vollen schöpfen. Nach dem Ausscheiden der „Babyboomer“ aus dem Erwerbsleben folgt das böse Erwachen.

Kaum zufällig will die Bundesregierung ihre „Rentengarantie“ mit dem Verzicht auf Rentenkürzungen und Beitragssteigerungen nicht über das Jahr 2025 hinaus geben: Das danach rasch ansteigende Mißverhältnis zwischen Beitragszahlern und Rentenbeziehern zwingt dann entweder zu höheren Beiträgen, steigenden Steuerzuschüssen oder weiteren Rentensenkungen.

Ohne eine umfassende Reform und breitere Aufstellung des Rentensystems wäre auch die vieldiskutierte Einbeziehung von Beamten in die gesetzliche Rentenkasse Stückwerk. Auch bei den Beamtenpensionen explodieren die Kosten: Die Pensionslasten des Bundes für seine Beamten haben in diesem Jahr um weitere 50 Milliarden zugelegt und die 800-Milliarden-Euro-Marke durchbrochen; das sind 53 Prozent mehr als noch vor fünf Jahren.

Auf die Kranken- und Pflegeversicherung kommen durch den wachsenden Anteil älterer Menschen deutliche Mehrbelastungen zu. Vorhandene Reserven schmelzen in der Corona-Krise rasch dahin; schon im kommenden Jahr dürften die Beiträge wieder steigen.

Für die Pflegeversicherung will Bundesgesundheitsminister Jens Spahn noch vor der Bundestagswahl eine Reform durchsetzen, die die Eigenanteile der Versicherten deckelt und Mehrkosten durch Steuerzuschüsse ausgleichen will. Das soll sechs Milliarden Euro kosten – vorerst. Die Antwort darauf, wo diese Einnahmen künftig herkommen sollen, bleibt auch Spahn schuldig.

Für ein realistisches Bild muß neben der offiziell ausgewiesenen Staatsschuld von rund 60 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) auch die „implizite Staatsschuld“ aus staatlichen Leistungsversprechen für die Zukunft, die vom aktuellen Steuer- und Abgabenniveau nicht gedeckt sind, einbezogen werden. Für 2019 hat der Ökonom Bernd Raffelhüschen diese „Nachhaltigkeitslücke“ auf 159 Prozent des BIP berechnet; damit hätte die Gesamtverschuldung von 7,4 Billionen Euro bereits das gesamte Geldvermögen der privaten Haushalte um eine Billion übertroffen.

Infolge der Corona-Maßnahmen ist die implizite Staatsverschuldung auf 285 Prozent des BIP und die Gesamtverschuldung auf 345 Prozent oder 11,9 Billionen Euro gestiegen. Zur Sanierung der Staatsfinanzen wäre dadurch entweder eine Einnahmenerhöhung um 15,8 Prozent oder eine Ausgabenkürzung um 12,7 Prozent erforderlich.

Vom einen wie vom anderen ist die Regierungspolitik derzeit weiter denn je entfernt. Der gerade von den Corona-Krisen-Politikern bei jeder Gelegenheit beschworene „starke Sozialstaat“ steht in Wahrheit schon seit geraumer Zeit auf tönernen Füßen.