© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 42/20 / 09. Oktober 2020

Wie Pilze aus dem Boden
Wiege der Wittelsbacher: Die Bayerische Landesausstellung widmet sich der urbanen Revolution im 13. Jahrhundert und ihren Nachwirkungen
Felix Dirsch

Die Wahl historischer Themen, wie sie etwa in Form von Präsentationen umgesetzt werden, aber auch die Titel von Ausstellungen sind maßgeblich von der unmittelbaren Gegenwart bestimmt. So ist der Blick auf die bayerischen Gründungsstädte dem bereits seit einiger Zeit andauernden Wachstum heimischer Metropolen geschuldet. Stagnierte der Regierungssitz München über einen längeren Zeitraum hinweg, ist die Einwohnerzahl der bayerischen Landeshauptstadt zuletzt auf 1,5 Millionen Einwohner gestiegen. 2040 soll bereits die Zwei-Millionen-Marke in greifbare Nähe rücken. Weitere Beispiele aus dem Freistaat lassen sich mühelos finden.

Auch der ursprünglich beabsichtigte Ausstellungstitel „Stadtluft macht frei“, der von Rechtsgelehrten im 19. Jahrhundert mit Blick auf die relative Freiheit in der mittelalterlichen Stadt geprägt wurde, erwies sich überraschend als umstritten. Die frühere Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland, Charlotte Knobloch, erhob Einspruch dagegen, scheint er doch begrifflich nicht weit entfernt vom zynischen Spruch „Arbeit macht frei“ aus der NS-Zeit.

Aufschwung des Städtwesens

So entschieden sich die Kuratoren für „Stadtluft befreit“. Der Besucher der Schau erhält einen guten Einblick in den Aufschwung des Städtewesens, den die Wittelsbacher nach ihrer Belehnung mit dem Herzogtum Bayern im 12. Jahrhundert forciert haben, besonders Ludwig der Kelheimer und sein Sohn Otto. Die Umstände waren optimal: Das mittelalterliche Klimaoptimum bescherte, neben anderen Faktoren, günstige Ernten. Der Handel nahm zu; die Einwohnerzahlen wuchsen. Klöster, Märkte, Burgen und Bischofsitze bildeten vermehrt Netzwerke. Die Verleihung des Stadtrechts gewährte den Siedlungen einen rechtlichen Rahmen.

Attraktiv war das Leben in urbanen Räumen nicht nur wegen des relativen Wohlstandes, sondern auch wegen der Möglichkeit, Freiheit zu erlangen: nach einem „Jahr und Tag“ Aufenthalt, wie es in den Quellen heißt. Den Grundherren war es in der Regel verwehrt, Untertanen wieder zurückzuholen. Erwähnenswert ist die eigentümliche Dynamik, die das Leben in der mittelalterlichen Stadt gewinnt – nicht zuletzt durch vielfältige Arbeitsspezialisierungen. Somit entstehen wechselseitige Abhängigkeitsverhältnisse und (wenn auch oft kaum merklich) ein „Wir“-Gefühl.

Von diesen Verdichtungsprozessen und ihren Konsequenzen bekommt der Besucher beider Ausstellungsorte, im Schloß Friedberg und im FeuerHaus Aichach, im Wittelsbacher Stammland, einiges vermittelt. Den Beginn der Präsentation markiert eine Scheibe, auf der wichtige Orte des mittelalterlichen Herzogtums zu sehen sind. Herausragende Bischofsstädte, bis heute Zentren des Glaubens, nehmen früh einen hervorragenden Stellenwert im altbayerischen Leben ein. Nicht zuletzt aus diesem Grund finden sich im ersten Ausstellungsraum etliche Zeugnisse des christlichen Glaubens, darunter der sogenannten Stab des heiligen Emmeram.

Natürlich werden diverse Voraussetzungen des städtischen Lebens genauer unter die Lupe genommen. Zu nennen ist die für das Zusammenleben so essentielle Wasserversorgung. Ein Latrinensitz zählt vielleicht zu den eindrucksvollsten Stücken, die zu bewundern sind. Verschiedene Latrinenfüllungen sind von Archäologen begehrt, da sie manches von dem konservierten, was im nachhinein wesentliche Aufschlüsse über damalige Existenzbedingungen gibt. 

Die Hauptbereiche, die ausführlicher thematisiert werden, sind rasch aufgezählt: Wasser in der Stadt, Kirchen, Alltagsdinge, Mauern und Fehden, Leute und Steine, Räte und Herren, Spitäler, Moden, Monstranzen, Lanzen, Literaten, Tafelsilber und viele weitere besondere Artefakte des Stadtlebens. Bereits diese oberflächliche Aufzählung verrät die erstaunliche Buntheit – um einen modernen Ausdruck zu verwenden – des städtischen Lebens. Wohl dürfte auch diese Vielgestaltigkeit für viele anziehend gewirkt haben. Die relative Anonymität war wohl zu jeder Zeit einer der Gründe, in die Stadt umzuziehen.

Auch im alten Bayern hat sich die Stadt im Laufe von Jahrhunderten entwickelt. Darüber gibt die Ausstellung ebenfalls fundierte Einblicke. Man erfährt mittels Infoscreens die Veränderung zentraler Bauwerke in wichtigen Städten des alten Bayern wie Landshut, Straubing, Deggendorf und Erding. Daneben werden wesentliche Originalstücke präsentiert, von Torgeldbüchse über Waffen und Wappen bis zu einer imposanten Salzstadeltruhe aus Passau. Sie zeigt vor allem den auf Handel basierenden Reichtum der Stadt (und vieler anderer altbayerischer Städte). Rund 150 mittelalterliche Stücke sind insgesamt zu bestaunen. Am Ende des Rundganges kann der Besucher die Entwicklung ausgewählter bayerischer Städte nochmals in Form eines kurzen Filmes verfolgen.

Geschichte im Zeitraffer

Hinter einer solchen Präsentation sind natürlich, insbesondere für den Fachmann, diverse Forschungsbereiche auszumachen. Dazu zählt das in den letzten Jahren interdisziplinär intensiv diskutierte Feld spezifischer Hintergründe einer Verdichtung des Wohnraumes. Besonders in der Archäologie werden die Voraussetzungen der Fortifikation ausführlich erörtert. Dabei geht es nicht nur um die Gründung von Städten, sondern auch um die von Burgen, Klöstern und anderen Zentralorten. Diese Prozesse sind ausgesprochen komplex. Heute nimmt man überwiegend polyzentrische Ursprünge der meisten Städte an, deren ältere Kerne im 12. und 13. Jahrhundert überprägt werden, meist durch Zugriff der Territorialherren.

Der zweite Teil der Ausstellung, neben dem konventionell-musealen in Friedberg, nutzt neueste Digitaltechnik. In Aichach wird auf multimedial-interaktive Weise ein Szenario geboten, welches die Entwicklung der bayerischen Städtewelt vom Mittelalter bis heute im Zeitraffer präsentiert. Doch die Initiatoren der Ausstellungen haben nicht nur die Geschichte im Blick, sondern auch die Gegenwart von Land und Leuten. Selbst die Altstädte von Aichach und Friedberg vermitteln heutre noch einen Hauch dessen, was die mittelalterliche Stadt ausmachte. Die Kommunen haben für dieses Ereignis etliche größere Investitionen in die Infrastruktur getätigt, die sich gelohnt haben. Gerade das von den beiden Gemeinden geschnürte Gesamtpaket macht die diesjährige Landesausstellung besonders attraktiv. 

Die Bayerische Landesausstellung 2020 „Stadt befreit. Wittelsbacher Gründerstädte“ findet bis 8. November im Wittelsbacher Schloß in Friedberg und im ehemaligen Feuerwehrhaus in Aichach statt.

 https://wittelsbacherland.de/