© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 42/20 / 09. Oktober 2020

Der Kurswert der Geborgenheit steigt
Vorschläge aus dem staatsrechtlichen Diskurs: Das Recht auf Heimat sollte grundgesetzlich besser geschützt werden
Dirk Glaser

Bis zu diesem Frühjahr benötigten wohl auch etliche Juristen eine kurze Bedenkzeit, um zu überlegen,  welches Recht Artikel 11 des Grundgesetzes (GG) denn wohl schütze. Seit „Corona“ gelangte dieser Mauerblümchen-Artikel jedoch zu so unerwarteter Prominenz, daß er selbst juristisch nicht vorgebildeten Bürgern ein fester Begriff geworden ist. Schützt er doch das vielen mittlerweile als gefährdet erscheinende Recht jedes Deutschen, sich ungehindert von hoheitlichen Eingriffen innerhalb der Grenzen der Bundesrepublik bewegen zu können. Allerdings nur im Rahmen einiger von Artikel 11 Absatz 2 GG festgelegten, bisher aber praktisch selten fühlbar realisierten Einschränkungen. So darf der Staat die Freizügigkeit der Bürger gesetzlich beschneiden, wenn dies etwa zur Bekämpfung einer Seuchengefahr dient – wie dies während des durch den von März bis Juni verfügten „Lockdown“ erstmalig in der Bundesrepublik geschehen ist.

Wenn sich der staatsrechtliche Diskurs in jene Richtung bewegen sollte, die der Kölner Jurist Patrick Klaus Mensel skizziert, steht dem Artikel 11 GG ganz unabhängig von der Entwicklung der Corona-Pandemie rechts- und gesellschaftpolitisch eine glänzende Zukunft bevor. Vorausgesetzt das Recht auf Freizügigkeit beinhaltet auch ein Recht auf Heimat (Der Staat, 1/2020). 

Heimat als erheblicher immaterieller Wert

Eine solche Auslegung gilt dem Bundesverfassungsgericht und der im rechtswissenschaftlichen Schrifttum „herrschenden Meinung“ bislang als abwegig. Überhaupt zur Diskussion gestellt wurde die Möglichkeit, ein Recht auf Heimat aus diesem Artikel abzuleiten von der heutigen Bundesverfassungsrichterin Susanne Baer, die 1997 einen Aufsatz veröffentlichte, der das Freizügigkeitsrecht im Kontext der Umsiedlungen zugunsten des Braunkohletagebaus neu interpretierte. Demnach sollte das Heimatrecht zum Schutzbereich des Artikels 11 GG gehören.

Pikanterweise sah sich Baer abermals mit der Materie konfrontiert, als in Karlsruhe 2013 die Entscheidung über Verfassungsbeschwerden gegen den Braunkohletagebau Garzweiler II fiel, ohne daß ihre originelle, immerhin in Grundgesetzkommentare als respektable Mindermeinung eingeflossene Exegese von 1997 ihre Senatskollegen gekümmert hätte. Für die war die seit den 1960ern weit fortgeschrittene Zerstörung der linksrheinischen Natur- und Kulturlandschaft, die bis heute siebzehn Ortschaften mit über 11.000 Bewohnern der Braunkohleförderung opferte, wesentlich ein Problem der in Artikel 14 GG garantierten Eigentumsfreiheit. 

Da Eigentum aber ebensowenig wie alle anderen Grundrechte einschließlich der Freizügigkeit nicht unbeschränkt gewährt wird, sondern unter Gesetzesvorbehalt steht, darf es zum Wohl der Allgemeinheit gegen adäquate Entschädigung dem Eigentümer entzogen werden.

Die Argumentation in Baers Aufsatz aufgreifend, vertritt Mensel nun die Position, die staatlichen Enteignungen zugunsten der Braunkohletagebaue Garzweiler I und II seien, bringe man Umfang, Dauer und Intensität der Eingriffe in Anschlag, nicht nur auf Eigentumsfragen zu reduzieren. Denn es gehe hier um mehr als Sachwerte, um Grundstücke und Häuser. Die zerstörten Dörfer repräsentierten nämlich für die vom Tagebau vertriebenen Bewohner auch einen erheblichen immateriellen Wert: Heimat. 

Dieser lasse sich zwar finanziell nicht taxieren, sei aber für die daraus Vertriebenen von existentieller Bedeutung gewesen. Um diese These zu beweisen, erlaubt sich Mensel einen längeren Exkurs in die wechselvolle  Geschichte des deutschen Heimatverständnisses. Infolge der „emotionalen Aufladung durch den Nationalsozialismus pervertiert“, galt Heimat lange nach 1945 als „vorbelastet“, eine Einstellung, die sich erst seit den 1970ern zu ändern begann, als der Widerstand der Ökobewegung gegen den Bau von Atomkraftwerken, gegen das Waldsterben und die Vergiftung von Gewässern und Böden sich zur „Heimatverteidigung“ und zur „Regionalpolitik von unten“ auswuchs. 

Als Antwort auf die auflösenden Wirkungen der Globalisierung wecke Heimat mittlerweile wieder, wie Umfragen bestätigen, bei einer Mehrheit positive Gefühle und lasse den Kurswert des Geborgenheit, Zugehörigkeit und Sicherheit versprechenden geistigen und kulturellen Bezugssystems Heimat steigen. Wenn damit Heimat erneut als anthropologische Konstante, als unverzichtbarer „Satifikationsraum des territorialen Menschen“ (so die Kulturanthropologin Ina-Maria Greverus 1972) wahrgenommen wird, dann wäre es für Mensel folgerichtig, dessen Bedeutung für die „emotionale Sicherheit“ und die Entfaltung der Persönlichkeit  sowie dessen hohen sozialpsychologischen Wert für den gesellschaftlichen Zusammenhalt dadurch angemessen zu würdigen, daß das Recht auf Heimat als eigenständiges Recht endlich grundgesetzlich verankert werde. 

Da es Konsens ist, daß Artikel 11 GG auch das Recht umfaßt, an dem in Freizügigkeit gewählten Wohnsitz bleiben zu dürfen, sofern dem Regelungen der Bodenordnung nicht entgegenstehen, wäre es nur eine Frage dogmatischer Kreativität, diesen Aufenthaltsort, der rechtlich bisher nur als kultureller und sozialer Bezüge bares Grundeigentum gilt, als „Heimat“ eine höhere Rechtsqualität zu verschaffen. So wäre sie besser vor der Bedrohung durch Großprojekte geschützt. Perspektivisch böte ein derart aufgewertetes Bleiberecht erhebliches Potential als Waffe des Bürgers gegen absehbare Heimatvertreibungen großen Stils durch Windparks, Stromtrassen, Atommüll-Endlager.