© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 42/20 / 09. Oktober 2020

Zwischen Kitsch und Pilgermassen
Der französische Schriftsteller Joris-Karl Huysmans hat einen sehr differenzierten Blick auf den Erscheinungsort Lourdes geworfen
Georg Alois Oblinger

Mehr als hundert Jahre nach seinem Erscheinen wird ein Buch über Lourdes erstmals ins Deutsche übersetzt. Gibt es nicht schon genügend Bücher über den französischen Marienerscheinungsort? Kann ein Buch aus dem Jahr 1906 dem heutigen Leser etwas sagen, was andere Bücher nicht können?

Beim vorliegenden, aus dem Französischen übersetzten und mit einem Nachwort von Hartmut Sommer versehenen Buch ist freilich erstmal der Autor bemerkenswert. Der aus einer niederländischen Malerfamilie stammende französische Schriftsteller Joris-Karl Huysmans (1848–1907) war zunächst ein Vertreter des Naturalismus um Emile Zola (1840–1902), fand dann aber nach langer religiöser Suche zum katholischen Glauben. Der Wert seines Lourdes-Buches liegt daher schon einmal in der einzigartigen und ausführlichen Beschreibung des dortigen Wallfahrtsbetriebs, die uns ein plastisches Bild der Religiosität zu Beginn des 20. Jahrhunderts bietet.

Doch das ist nicht alles. Huysmans als Ästhet blieben doch manche Ausdrucksformen des Glaubens fremd. So ist er nicht der typische Lourdes-Pilger. „Wenn es einen gibt, der niemals den Wunsch gehabt hat, Lourdes zu sehen, dann bin ich es“, schreibt er selbst. In den Jahren 1903 und 1904 hält er sich jeweils für mehrere Wochen an dem Wallfahrtsort in Südfrankreich auf. Mit distanziertem Blick nähert er sich dem berühmten Ort und den dortigen Ausdrucksformen der Volksfrömmigkeit.

Daß sein Buch keine glatte Lobeshymne wird, war daher von vornherein klar. Doch gerade durch den distanzierenden Blick Huysmans gewinnt sein Buch an Überzeugungskraft. Im Original trägt es den Titel „Les foules de Lourdes“ – wörtlich „Die Massen von Lourdes“. Der Lilienfeld Verlag hat für die deutsche Ausgabe den Titel „Lourdes – Mystik und Massen“ gewählt. Das assoziiert, daß Übernatürliches angepriesen wird, aber letztendlich nur ein Massenphänomen mit all seinen negativen Komponenten angetroffen werden kann. Die umgekehrte Formulierung „Massen und Mystik“ wäre wohl passender gewesen – und zwar aus einem doppelten Grund: Erstens wiegt so in der Wahrnehmung des Lesers das Positive an Lourdes stärker und das entspricht auch dem Inhalt des Buches. Zweitens zeigt das den Weg, den auch Huysmans selbst gegangen ist. Er kam als einer, der einem Massenereignis grundsätzlich reserviert gegenübersteht und der sich auch mit großer Skepsis nach Lourdes begeben hat, dann aber doch zur Überzeugung gelangt ist, daß hier sehr Wertvolles geschieht, ja daß die Gottesmutter Maria und Gott selbst hier wirken.

Huysmans nimmt den möglichen Kritiker des Erscheinungsorts mit, indem er ausführlich und oft mit gnadenlosem Urteil alle Negativerscheinungen dieses Ortes schildert. Bereits zwölf Jahre vor Huysmans hat sein ehemaliger literarischer Weggefährte Zola ein Buch mit dem Titel „Lourdes“ (1894) geschrieben. Schon er kritisierte Wundersucht, Devotionalienhandel und Profitgier, vor allem aber ließ er Wunder nur als psychosomatischen Prozeß gelten. In seinem Roman verdrehte er sogar manche Tatsachen, um keine Wunder anerkennen zu müssen. Genau hier ist der Unterschied zu Huysmans. Er geht absolut redlich mit den Tatsachen um, die er vorfindet.

Anders als Zola bestreitet Huysmans die Wunder nicht

Kritik übt Huysmans am unaufhörlichen lauten Beten der zahlreichen Pilger, das eine Innerlichkeit und wahre Gottesbegegnung geradezu unmöglich macht. Ebenso kritisiert er die zahllosen Messen, die schnell heruntergelesen werden. Auch der massenhaft anzutreffende Kitsch in den Wallfahrtsläden findet vor Huysmans keine Gnade. Ausführlich aber setzt sich Huysmans mit den Wundern auseinander, die sich in Lourdes ereignet haben sollen, merkt aber positiv an, daß die Kirche jedes Wunder sehr genau und kritisch prüft. Dazu begibt er sich auch ins Konstatierungsbüro von Doktor Boissarie, das für diese Phänomene zuständig ist. Der von Zola und anderen Zeitgenossen vertretenen Auffassung, die Wunder seien durch Autosuggestion erfolgt, erteilt er eine deutliche Absage. So führt er das Beispiel sehr kleiner Kinder an und auch das einer Ordensfrau, die gar nicht geheilt werden wollte, sondern nur im Gehorsam gegenüber ihrer Oberin nach Lourdes gefahren ist. Gerade hier wird Huysmans zum überzeugenden, weil unvoreingenommenen Verteidiger von Lourdes.

Am Ende des Buches zieht Huysmans das vom Glauben erfüllte Fazit: „Lourdes (…) ist eine Essenz des Grauens, die in ein Faß praller Freudigkeit gestopft ist. (…) Ja, sicherlich, das ist ziemlich erbärmlich, es reizt dazu die Stadt zu verlassen und sie niemals wieder zu betreten, aber das ist die schamlose Kehrseite eines unvergleichlichen Ortes, sein Gesicht ist, Gott sei Dank, ein anderes. Zunächst ist da der Glaube der Menschen, die zusammenkommen, um die Jungfrau anzurufen – ein Glaube, der nirgendwo sonst so wie hier als glühende Lava aufwallt und der niemals wankt. (…) Dann gibt es in Lourdes mehr als überall sonst auf der Welt eine leidenschaftliche Nächstenliebe. (…) Schließlich ist die Jungfrau hier anwesend, mitfühlend und mild, in manchen Augenblicken gegenwärtiger und uns näher als irgendwo sonst. Sie selbst hat durch ihre Heilungen die Wallfahrt weltweit berühmt gemacht.“

Joris-Karl Huysmans: Lourdes – Mystik und Massen. Lilienfeld Verlag, Düsseldorf 2020, gebunden, 320 Seiten, Abbildungen, 22 Euro