© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 42/20 / 09. Oktober 2020

Der Flaneur
Die Rowdys bändigen
Elke Lau

An der Kreuzung warten alle diszipliniert an den vorgeschriebenen Markierungen auf Grün: links Fußgänger wie wir, rechts Radfahrer. Als die Ampel umschaltet, setzen sich beide Pulks in Bewegung, vor uns zwei Passanten in kurzem Abstand.

Unvermittelt taucht ein Radfahrer, von hinten kommend, neben uns auf und kreuzt unsere Spur, indem er in Pantoffelstärke vor uns abbiegt. Verschreckt und wütend schreit Begleiter Uli ihm nach: „Was fällt Ihnen ein, wie ein Blöder die Regeln zu mißachten?“

Jetzt hilft nur noch die Zauberformel: „Haben Sie schon einen 

Weihnachtsbaum?“

Der topmodisch gekleidete Rüpel – perfekt gestutzter Bart, moderne Portierzwiebel auf dem Hinterkopf – wendet sofort. Wir erreichen den Bürgersteig. Er auch. In letzter Sekunde bremst er sein verrostetes Vehikel. „Hast du ... äh ... haben Sie ‘Blöder’ zu mir gesagt?“ 

„Nein, wie ein Blöder …“

„Jetzt hören Sie mir mal gut zu…“, schnaubt er herablassend, steigt von seiner Feile ohne Schutzblech und Beleuchtung und hebt drohend die Faust: „Ich habe vorschriftsmäßig abgewinkt …“

Uli unterbricht: „Sie befanden sich auf der Spur für Fußgänger!“ 

„Sie sollen mir zuhören …“

Der Wortwechsel der beiden Männer verschärft sich. Mir reißt der Geduldsfaden, die Zauberformel kommt zum Einsatz: „Darf ich Sie etwas sehr Persönliches fragen? Haben Sie eigentlich schon einen Weihnachtsbaum?“ Verblüfftes Schweigen. Dann lacht der Verkehrsrowdy schallend los und streckt uns, trotz Corona-Warnung, die Hand entgegen: „Frieden?“

Klar. Verabschiedung in bestem Einvernehmen. Der Mann fährt weiter, natürlich auf dem Bürgersteig, und wir biegen in die Pappelallee ein. Autofreie Straße zu den Unikliniken mit vorgezeichnetem Terrain für Fußgänger und Radfahrer. Das Schimpfwort, das eine Studentin soeben einem rasenden Rentner auf E-Bike nachblökt, nehmen wir gelassen zur Kenntnis. Unser Bedarf an Diskussionen ist für heute gedeckt, und die gute Laune lassen wir uns auch nicht verderben.