© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 43/20 / 16. Oktober 2020

Der Nutzen eines Feindes
Maßnahmen im Kampf gegen Corona: Die Gleichheit vor dem Gesetz gilt nur noch bedingt
Fabian Schmidt-Ahmad

Ausgangssperren, Berufsverbote, Reisebeschränkungen – künftige Historiker werden unsere Epoche in eine Zeit vor und nach dem Virus einteilen. Freiheitsrechte, die uns eigentlich schützen sollen, sind selbst verletzlich geworden. Zurück bleibt ein verunsicherter Bürger, der erleben muß, wie sich Rechtssicherheit zunehmend in willkürliche und widersprüchliche Verwaltungsakte auflöst: Gestern so, heute so, morgen vielleicht wieder ganz anders.

Kaum einer würde gegen die Maßnahmen protestieren, wenn die Pandemie apokalyptische Ausmaße hätte, wie sie beispielsweise Steven Soderbergh 2011 im Film „Contagion“ schilderte. Doch die Endzeit-Katastrophe ist ausgeblieben. Wohl eher nicht wegen der verschiedenen Maßnahmen, sondern weil das Virus nicht so tödlich wie anfänglich befürchtet ist. Gewiß, das Virus kann für ältere, vorerkrankte oder geschwächte Menschen eine ernste Gefahr darstellen. Doch in welchem Verhältnis steht dazu die allen verordnete Therapie?

Seit Monaten sterben in Deutschland täglich etwa ein Dutzend Personen, bei denen das neuartige Coronavirus nachgewiesen wurde. Wie viele dieser Menschen aber tatsächlich durch das Virus getötet wurden, ist unklar. Immerhin haben rund 85 Prozent der Verstorbenen das 70. Lebensjahr überschritten. Tatsache ist jedoch, daß unser Gesundheitssystem zu keinem Zeitpunkt überfordert war, auch nicht im April, als die Zahl der positiv getesteten Toten kurzzeitig auf dreihundert pro Tag anschwoll.

Die „zweite Welle“ findet also eher medial statt. Warum aber diese kollektive Panik, die sich offenbar vom Sachverhalt entkoppelt hat? Carl Schmitts berühmte Unterscheidung von Freund und Feind als Bestimmung des Politischen hat einen Nachteil. Der Feind ist immer ein Mensch, woraus folgt, daß die Menschheit als Ganzes nie zum organisierten Verband aufsteigen kann. „Die politische Einheit kann ihrem Wesen nach nicht universal in dem Sinne einer die ganze Menschheit und die ganze Erde umfassenden Einheit sein.“

Was aber, wenn ich in einer globalisierten Welt das Politische doch auf die Menschheit ausdehnen will? Dann brauche ich für echte Opferbereitschaft einen außermenschlichen Feind. Wie wäre es mit einer Klimakatastrophe? Ein verfinsterter Himmel durch die Sündhaftigkeit der Menschen; hier werden durchaus atavistische Bilder angesprochen. Allein, die Gefahr ist zu abstrakt. Schlußendlich mobilisiert man hier im Kern pubertierende Mädchen aus gutsituierten Verhältnissen, die sich Panik leisten können.

Bleibt nur das Virus übrig, das uns als dauerhafte, latente Bedrohung tief in das Erbgut eingeschrieben ist. Nicht von ungefähr erinnert die mediale Tonlage an Kriegsberichte. Mal wird die Widerstandskraft der Gemeinschaft beschworen, mal vor der Mordlust des Feindes gewarnt. Geheimnisvolle Wunderwaffen unserer Ingenieure konkurrieren mit heimtückischen Listen des Angreifers. Darum, sei wachsam, beobachte deinen Nachbarn! Und ignoriere die sozialen Kosten.

„Die Corona-Krise ist ein wirtschaftlicher Schock, dessen Ausmaß alles in den Schatten stellt, was die Weltwirtschaft seit dem Zweiten Weltkrieg an Krisen erlebt hat“, schätzt das sonst so nüchterne Ifo-Institut. Rund 6,7 Millionen Menschen sind derzeit in Kurzarbeit – und damit jeder fünfte sozialpflichtig Beschäftigte. Zum Höhepunkt der Finanzkrise 2009 waren es nur 1,5 Millionen. Was die Zahlen nicht wiedergeben, sind die Einzelschicksale dahinter.

Hier die familiengeführte Gastwirtschaft, dort das mittelständische Reisebüro – ohne großes Medienecho werden sie verschwinden. Und wessen Atem noch länger reicht, wird sich mehr denn je über den deutschen Behördenapparat wundern. Ein heute vom Gesundheitsamt genehmigtes Hygienekonzept kann morgen hinfällig sein. Die Beherbergung von Touristen aus Berlin in Brandenburg ist verboten, nicht aber die von Geschäftsleuten. Ein Achtzigjähriger darf sich nicht von seinem sterbenden Lebenspartner verabschieden. Dagegen findet unter Polizeiaufsicht eine orientalische Beerdigung mit Hunderten Teilnehmern statt.

Wie in einem Krieg gilt die Gleichheit vor dem Gesetz nur noch bedingt. Ohne Mundschutz in der U-Bahn? Kostet fünfzig Euro. Eine islamische Hochzeit mit einem Dutzend Infizierter? Bisher bleibt es bei der Forderung nach Konsequenzen. Wer stark ist, wer bestimmen kann, ist im Vorteil. „Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet“, heißt es bei Schmitt. Denn eigenmächtig gibt er sich selbst die Regel. Ein einfacher Bürger, der aus Berlin-Mitte nach Schleswig-Holstein fährt, muß für zwei Wochen in Quarantäne. Für den Bundestagsabgeordneten, der seinen Wahlkreis besucht, gilt das nicht.

Hier wird deutlich, was sich hinter diesen Maßnahmen verbirgt. Es ist eine Demonstration von Machtverhältnissen. Die gleichen Kreise, die 2015 jeden als Hysteriker abstempelten, der in ungeschützten Grenzen eine Gefahr für das Gemeinwesen sah, haben den Hebel umgelegt. Nun soll jeder eine Grenze mit sich herumtragen. Wer diesen Umschwung innerlich am geschmeidigsten absolviert, wer am geräuschlosesten vom Frieden auf Krieg mit Ozeanien umschwenken kann, dient sich am überzeugendsten einem künftigen, weltweiten Regime an.

Alle anderen, die sich bisher von der betulich-besserwisserischen Politik des „Nudging“ mehr angewidert als bedroht fühlten, werden dagegen mit dessen häßlicher Seite konfrontiert. Statt objektivem Recht die Willkür von „Machern“ und „Entscheidern“, die generös als Geschenk verteilen, was vorher Grundrecht war. Bist du artig, hast du dir die Hände gewaschen, dann lassen wir dir – vielleicht – deine Existenz. Oder mit Schmitt: „Der Ausnahmefall offenbart das Wesen der staatlichen Autorität am klarsten.“