© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 43/20 / 16. Oktober 2020

Ein totalitärer Methodenschutz
Prophetische Mahnung: Was die Schriftstellerin Juli Zeh 2009 als Dystopie verstand, bekommt durch die Covid-19-Krise plötzlich ungeahnte Brisanz
Dietmar Mehrens

Trägt Juli Zeh jetzt auch einen Aluhut?“, beginnt ein Artikel über die Autorin im Spiegel. „Lächerlich“, „gönnerhaft“, „peinlich“ sind weitere wenig schmeichelhafte Attribute, mit denen Volker Weidermann in dem Text um sich wirft. Was ist da schiefgelaufen in der schönen linken Kulturwelt, daß eine Frau wie Juli Zeh, SPD-Mitglied, rot-grüne Aktivistin, Schreiberin für Zeit und Spiegel, sich seitens des Flaggschiffs des linksliberalen Haltungsjournalismus auf einmal so viel Spott ausgesetzt und ihr Buch „Corpus Delicti“ (2009) als „Übertreibungskunst einer furchtsamen Autorin“ abgekanzelt sieht? 

Derart aggressive Frontalangriffe sind eigentlich für AfD-Anhänger reserviert, nicht für arrivierte Autorinnen. Der erste Roman der gebürtigen Bonnerin, „Adler und Engel“ (2001), wurde gleich ein internationaler Erfolg mit Übersetzungen in 35 Sprachen. Ihre Windkraft-Groteske „Unterleuten“ (2016) war im März als aufwendiger ZDF-Mehrteiler zu sehen. Dabei ist die höchst einträgliche Schriftstellerei eigentlich nur ein Nebenbroterwerb. Im Hauptberuf ist Zeh Juristin. 2019 wurde sie Richterin am Landesverfassungsgericht Brandenburg. 

Zukunftsvision einer Welt ohne Transzendenz

Die Geschichte von „Corpus Delicti“ ist nicht ganz unkompliziert: Zunächst handelte es sich um einen Beitrag zum Theaterfestival Ruhrtriennale 2007. Dann modelte die Autorin das Stück zu einem Roman um, der allerdings, wie sie in „Fragen zu Corpus Delicti“, dem im Sommer als Stufe drei der Entwicklung erschienenen Ergänzungsband, selbst zugibt, seinen Ursprung nicht verleugnen kann. Ihm fehlt der erzählerische Sog vergleichbarer Dystopien wie „1984“, „Die Tribute von Panem“ oder „Alles, was wir geben mußten“ von Nobelpreisträger Kazuo Ishiguro. Es ist der Roman einer Intellektuellen, die ins Nachdenken gekommen ist über das, was ist, und das, was daraus werden könnte: in Zehs Szenario etwas elementar Beunruhigendes. 

Schauplatz ihrer Zukunftsvision, die in spröden Kammerspiel-Szenen präsentiert wird, ist ein Staat in nicht allzu ferner Zukunft, in dem „die naturwissenschaftliche Erkenntnis das göttliche Weltbild zerstört und den Menschen ins Zentrum des Geschehens gerückt“ hat, um ihn dann dort stehen zu lassen, „ohne Antworten“. In einer Welt ohne Transzendenz und religiöse Sinngebung, einer Welt, „die den Geist an den Körper verraten hat“, beugt sich alles der Maxime: Hauptsache gesund! Die Handlung tragen – dramaturgisch wirksam – drei charismatische Hauptfiguren: Die 30jährige Mia Holl, von Beruf Biologin, ihr Bruder Moritz, ein Dissident, der des Mordes bezichtigt und verurteilt wird, und der Systemlakai Heinrich Kramer, eigentlich ein Journalist (sich selbst nennt er „Auge der vierten Gewalt“), tatsächlich aber ein moderner Goebbels: schneidig, eloquent und hündisch regimetreu.

Mit kaltem Charme verkündigt er die Dogmen der Diktatur, der er dient: Letztgültige ultimative Wahrheit eines postreligiösen und post-ideologischen Zeitalters sei der Überlebenswille aller Wesen. Aus diesem kollektiven Konsens abgeleitet ist die METHODE (immer in Großbuchstaben), eine zu Verfassungsstatus aufgeblähte AHA-Regel sozusagen. Ziel der METHODE ist es, „jedem einzelnen ein möglichst langes, störungsfreies, das heißt, gesundes und glückliches Leben zu garantieren“.

Zu ihr gesellen sich ein totalitärer Methodenschutz, eine Regierung namens Methodenrat, die Methodenlehre genannte Staatspropaganda sowie deren Gegenströmung: der Anti-Methodismus und die Methodenfeinde des Widerstandsnetzwerks „Recht auf Krankheit“ (R.A.K.).

Das „allein der Vernunft“ gehorchende Regime, in dem „die Ehe zwischen dem Menschen und dem Übermenschlichen geschieden“ wurde, hat „öffentliches und persönliches Wohl zur Deckung gebracht“ und sieht sich deswegen selbst als Endpunkt der Geschichte. Im herrschenden Hygienefaschismus grüßt man sich statt mit „Heil Hitler“ mit „Santé“, als staatliches Zentralorgan fungiert nicht der Völkische Beobachter, sondern der „Gesunde Menschenverstand“, und als Instrument zur Massenmanipulation fungiert die Talkshow „Was alle denken“. Sensoren messen automatisch den pH-Wert in der Kloschüssel. Rauchen und Alkoholkonsum gelten als illegaler Mißbrauch toxischer Substanzen. Fährt einem der Schreck in die Glieder, heißt es: „Hol mich der Virus!“ In Zeiten, in denen ein Bundestagspräsident daran erinnern muß, daß dem Schutz des Lebens nicht jedes Freiheitsrecht unterzuordnen ist, hat das auf einmal gar nichts Dystopisches mehr.

In Zehs etwas stark auf Allegorie gebürsteter Horrorvision steht Kramer für das System und Mia Holl, die nach dem Tod ihres Bruders in dessen Fußstapfen tritt, für den Widerstand dagegen. Die beiden liefern sich eine Reihe rhetorisch geschliffener Rededuelle. In einem Prozeß gelingt es Mia und ihrem Anwalt, der als unfehlbar geltenden METHODE einen Fehler nachzuweisen, woraufhin die Rebellin zur Galionsfigur einer breiten Protestbewegung wird. Wie könne denn etwas Anspruch auf Unfehlbarkeit erheben, kritisiert Mia, das von Menschen geschaffen worden sei? „Von Menschen, die alle paar Jahrzehnte ihre Überzeugungen, ihre wissenschaftlichen Ansichten, ihre gesamte Wahrheit austauschen?“ Kramer schlägt eiskalt zurück: Mit falschen Zeugen und fingierten Beweisen versucht er Mia endgültig aus dem Verkehr zu ziehen. Immerhin: In dem System der totalen Lebensbejahung droht selbst Staatsfeinden wie Mia keine Todesstrafe.

Scharfsinnig und pointiert hat Juli Zeh aktuelle Auswüchse, die das westliche Demokratiemodell gefährden, aufgestöbert und literarisch aufgespießt. Die „Anti-Methodisten“ zeichnen sich nicht nur durch einen „reaktionären Freiheitsglauben“ aus, sie stammen auch noch, so formuliert die Autorin herausfordernd, „aus der Mitte unserer Gesellschaft“.

Sie läßt einen modernen Inquisitor auftreten

Es fällt nicht besonders schwer, im Deutschland der Gegenwart Zehs „Methodenfeinde“ auszumachen: Querdenker, „Corona-Leugner“, AfDler. So kann man sich schnell den Vorwurf der Sympathie für „Verschwörungstheoretiker“ einhandeln. Verblüffend auch der von der Autorin im Prozeß gegen Mia Holl verwendete Begriff „Gesinnungsprüfung“: Am 16. September benutzte „Tagesthemen“-Moderatorin Caren Miosga in einem Gespräch mit BDK-Chef Sebastian Fiedler zu Rassismus-Vorwürfen gegen Polizeibeamte die gleiche Vokabel und machte Juli Zeh damit zur Prophetin. Klar ist auch: In Zeiten, in denen regierungsnahe Journalisten sich mit Lügenpresse-Vorwürfen überschüttet sehen, ist eine Figur wie Heinrich Kramer eine gewaltige Provokation, die Vertreter von Leitmedien wie Volker Weidermann nicht ohne Retourkutsche schlucken können. 

In ihrer Selbstbefragung zu dem inzwischen 400.000 Mal verkauften Roman warnt die Juristin mit Verweis auf Günther Jakobs und Carl Schmitt davor, im Vorgriff auf gerichtliche Klärungsverfahren Bürger im Sinne eines „Feindstrafrechts“ wie in der McCarthy-Ära zu „Gefährdern“ zu erklären. „Indem Corpus Delicti einen modernen Inquisitor auftreten läßt“, erklärt Juli Zeh ihr Buch, „will es auf ganz aktuelle Probleme verweisen, nämlich auf die immer noch vorhandenen totalitären Neigungen innerhalb unserer demokratischen Systeme“. Ob die SPD-Frau sich aber ein Werk, das solche Reaktionen auslöst, wohl noch einmal traut? Immerhin ist „Fragen zu Corpus Delicti“ im selben Jahr erschienen, in dem Bücher zum Corpus Delicti eines Parteiausschlußverfahrens wurden. Thilo Sarrazin, ein Freigeist wie Moritz Holl, mußte die alte Tante SPD verlassen. In bestimmten Kreisen ist der als Utopie gedachte „Methodenschutz“ also bereits rege am Werk.

Juli Zeh: Corpus Delicti. Ein Prozeß. btb, München 2009, broschiert, 272 Seiten, 11 Euro

Juli Zeh: Fragen zu Corpus Delicti. btb, München 2020, broschiert, 240 Seiten, 8 Euro