© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 43/20 / 16. Oktober 2020

Thalers Streifzüge
Thorsten Thaler

Vor wenigen Wochen ist die Buchhandelskette Thalia in die Kritik geraten, weil sie Regalflächen von einem staatsnahen chinesischen Unternehmen mit regierungsfreundlicher Literatur bestücken ließ. Zu den ausgestellten Büchern gehörte zum Beispiel „China regieren“, eine Sammlung von Reden und Interviews des chinesischen Staatspräsidenten Xi Jinping. Ich kenne diesen Band nicht, bezweifle aber stark, daß darin Tibet auch nur erwähnt wird. Seit die chinesische „Volksbefreiungsarmee“ vor siebzig Jahren, im Oktober 1950, in Tibet einmarschierte, steht das Land unter der Fuchtel der Han-Chinesen. Der im Exil lebende Dalai Lama gilt in Peking als „Staatsfeind“, in Tibet betreibt die kommunistische Führung Zwangsarbeits- und Umerziehungslager. Langfristig gehe es der chinesischen Regierung in Tibet „um das Ende traditioneller Lebensformen“, erklärte der Sozialanthropologe Adrian Zenz vergangene Woche der Süddeutschen Zeitung. Den Menschen dort werde „die politische Ideologie der Regierung eingetrichtert“, sagte der Wissenschaftler. Das sei mit der Unterdrückung der muslimischen Minderheit der Uiguren in der Region Xinjiang zu vergleichen, zu denen Zenz hauptsächlich forscht. „Im Kontext der zunehmend assimilatorischen Politik Pekings gegenüber ethnischen Minderheiten ist es wahrscheinlich, daß diese Politik einen langfristigen Verlust des sprachlichen, kulturellen und spirituellen Erbes fördern wird“, schreibt Adrian Zenz in einer Studie der Jamestown Foundation, einem in Washington ansässigen Forschungs- und Analyseinstitut.


Für den „schwersten Angriff auf die tibetische Lebensweise seit der Kulturrevolution“ (Zenz) gibt es freilich schon lange sogar bis in die Unterhaltungsliteratur hinein Anzeichen. Seit rund zwanzig Jahren veröffentlicht der US-amerikanische Rechtsanwalt und Krimi-Autor Eliot Pattison seine mittlerweile zehn Bände umfassende Reihe um den in Peking in Ungnade gefallenen und nach Tibet verbannten Ermittler Shan Tao Yun. Gleich der erste Krimi aus diesem Zyklus, „Der fremde Tibeter“ (1999, dt. 2002), beginnt in einer Zwangsarbeitsbrigade, in der Shan schuften muß. In Pattisons Nachwort heißt es: „Die Figuren dieses Romans sind ausnahmlos erfunden. Der fünfzigjährige Existenzkampf des tibetischen Volkes, das in einer Zeit höchster Not um Glauben und kulturelle Integrität ringt, ist es nicht.“ Und im jüngst erschienenen Band „Die vier Toten von Tibet“ heißt es in der Anmerkung, Tibet erscheine ihm „immer mehr als ein Gradmesseer unserer eigenen Menschlichkeit“.