© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 43/20 / 16. Oktober 2020

Eine leise Stimme, die unüberhörbar war
Nachruf: Die kritische Haltung des Schriftstellers Günter de Bruyn zum SED-Staat ergab sich aus seinen Büchern
Thorsten Hinz

Die öffentliche Stimme des Schriftstellers Günter de Bruyn, der vergangenen Sonntag im Alter von 93 Jahren gestorben ist, war eher leise und dabei so eindringlich, daß sie im schrillen Kulturbetrieb unüberhörbar war. In seiner zweiteiligen Autobiographie steht der Satz: „Mein Leben spielte sich zwar in der DDR ab, aber es blieb doch mein Leben.“ Er verstand sich als ein deutscher Autor, den das Schicksal eben in die DDR versetzt hatte.

1926 in Berlin geboren, absolvierte er nach seiner Entlassung aus amerikanischer Kriegsgefangenschaft zunächst eine Ausbildung als Lehrer, danach eine zum Bibliothekar. Seit Anfang der sechziger Jahre war er als freier Schriftsteller tätig. Vordergründig erzählen seine Romane von der Innenseite des Sozialismus im kleineren deutschen Staat. Sie schilderten, was er aus den Menschen machte und was die Menschen aus ihm und gegen ihn zu machen versuchten. Wer sie damals gelesen und schätzengelernt hatte, stellte bei der wiederholten, der Post-89er-Lektüre fest, daß ihre Wahrheit weit über das untergegangene Land hinausreichte.

In dem 1972 erschienenen Buch „Preisverleihung“ wird am Beispiel einer Vater-Mutter-Kind-Familie das Ideal der inneren Emigration, auch Nischen-existenz genannt, erklärt: „Was draußen auch geschehen mochte, den Kern berührte es nicht. Drei Menschen zogen täglich aus, um in der Öffentlichkeit sich selbständig zu bewähren und abends die Früchte heimzutragen.“ Doch äußerer Druck und innere Konflikte widerlegen das familiäre Idyll. Ähnlich heute, wo Familien sich unter dem Eindruck fataler politischer Entscheidungen spalten und sogar trennen.

Die „Märkischen Forschungen“ (1978) handeln von einem Hobbyhistoriker, dessen unkonventionelle Studien den etablierten Wissenschaftsbetrieb stören und der entsprechend zurechtgestutzt wird. Weil er jedoch im DDR-typischen Vokabular gefangen bleibt, sind seine Forschungen auch im Westen nicht anschlußfähig. Das nahm sowohl die asymmetrischen Voraussetzungen der Wiedervereinigung als auch die Zustände im aktuellen, im „besten Deutschland, das es jemals gab“, vorweg. Der Roman „Neue Herrlichkeit“ (1984) handelt von einem jungen Mann, der die angestrebte Karriere im diplomatischen Dienst der DDR mit Anpassung und menschlichen Defiziten bezahlt.

Natürlich entsprachen seine Bücher nicht den Erwartungen der Literaturfunktionäre, weshalb ihr Erscheinen stets von Schwierigkeiten begleitet war. Doch im Unterschied etwa zu Stefan Heym hat de Bruyn – von der Unterzeichnung der Petition gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns im November 1976 abgesehen – die dezidierte politische Stellungnahme nie gereizt. Er mußte nicht laut bekunden, daß er „dagegen“ war. Das ergab sich aus seiner Haltung, die ablesbar war aus seinen Büchern.

Er kritisierte die fehlende Reformfähigkeit

Bezeichnend für seine leisen, doch nachhaltigen Interventionen und für seine persönliche Bescheidenheit war der Auftritt auf dem X. Schriftstellerkongreß der DDR im November 1987. Er begann seine Rede mit dem Hinweis auf die Abschaffung der Folter in Preußen, die Friedrich II. unter dem Einfluß der aufklärerischen Literatur angeordnet hatte. Anschließend warf er rhetorisch die Frage auf, ob die Literatur in der DDR etwas Vergleichbares zur Abschaffung der Todesstrafe beigetragen hätte, um sie sogleich zu verneinen. Einen Voltaire oder Christian Wolff könne es in der DDR wegen der Praxis der Zensur nicht geben. So hatte er auf sanfte Weise das Terrain für harte Kritik bereitet:  an der fehlenden Reformfähigkeit, der Lüge in der öffentlichen und zwischenmenschlichen Kommunikation, an der Verletzung des Selbstbewußtseins, an der Entmündigung und Rechtsunsicherheit im Land. Die Rede gipfelte in dem Satz: „Angesichts der grenzüberschreitenden elektronischen Medien scheint mir der Angst vor dem gedruckten Wort Irrationales zugrunde zu liegen, dem mit Vernunft beizukommen sein müßte.“ Was natürlich hieß: Im Land regierte die Unvernunft, die Verrücktheit, die nichts so sehr zu fürchten hatte wie den Kontrollverlust.

Die Hälfte seiner Redezeit opferte er, um einen Brief von Christa Wolf zu verlesen, die nach dem Ausschluß regierungskritischer Kollegen 1979 ihre Mitarbeit im Verband eingestellt hatte. In der zutreffenden Annahme, daß die kritischen Worte der berühmten Kollegin in der Öffentlichkeit noch schwerer wiegen würden als die eigenen.

Das Verstummen dieser Stimme schmerzt. Sie wird leise, aber beständig nachhallen.