© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 43/20 / 16. Oktober 2020

Erzählen im 21. Jahrhundert
Leerstellen im Text
Lorenz Bien

Die heutige Kulturszene scheint sich seit einiger Zeit in einer Sackgasse zu befinden. Erzählt werden in erster Linie Geschichten aus der Vergangenheit. Im Film ist es das Remake; doch selbst wo nicht derart offensichtlich auf die letzten Jahrzehnte zurückgegriffen wird, finden sich ständig Rückgriffe auf ihre Ästhetik: nächtliche Großstadtstraßen wie in den Achtzigern, popkulturelle Anspielungen wie in den Neunzigern.

Bei der Literatur ist die Sache komplizierter, doch auch hier: Hat man nicht bei der Lektüre vieler zeitgenössischer Romane das Gefühl, irgendwie in die Vergangenheit einzutauchen? Wie viele zeitgenössische Autoren schaffen es wirklich, unsere Welt auf Papier zu bannen? Eine Welt, in der das Internet, das Smartphone und die allgemeine Informationsflut etwas mit dem Menschen gemacht haben; mit seiner Wahrnehmung, seinem Zeitgefühl und seinem Verhältnis zur Außenwelt und seinen Mitmenschen. Es wäre die Aufgabe der Literatur, sich in diese Veränderungen hineinzufühlen und die Psyche des Menschen dieser Welt zu ertasten.

Es gibt positive Gegenbeispiele, und zu ihnen werden wir später kommen. Nicht selten hat man beim Lesen eines zeitgenössischen Buches jedoch das Gefühl, es berichte noch irgendwo aus einer Welt, die so nicht mehr existiert; oder als blende es zumindest aus, daß sich da etwas verschoben hat, daß sich da etwas fundamental in Auflösung befindet oder sich bereits aufgelöst hat. Wenn Bernhard Schlink in „Abschiedsfarben“ damit beginnt, daß der tote Vater der Hauptfigur zu Hause noch auf dem Sterbebett liegt, bevor er ins Krankenhaus gebracht wird, und daß er seinen Nachbarn im Winter zu sich vor den Kamin einlädt – dann liest sich das heimelig und erinnert an liebgewordene Bildwelten. Aber es hat wenig mit der Welt zu tun, die man um sich herum findet.

Jean Baudrillard behauptete 1990 in seinem Essay „Das Jahr 2000 findet nicht statt“, daß die Geschichte Sache eines gewissen Rhythmus sei, der weder zu schnell noch zu langsam verlaufen dürfe, um Veränderungen und Brüche zu erzeugen, die auch als solche wahrnehmbar seien. Durch moderne Massenmedien, so folgerte er, habe sich die Geschwindigkeit derart erhöht, daß Geschichte eigentlich nicht mehr stattfinde. Die Wirklichkeit von Ereignissen sei quasi ausgesetzt. Neben der erhöhten Geschwindigkeit konstatierte Baudrillard zugleich auch eine Lähmung: Ereignisse werden zu schnell durch Informationskanäle geschleust, um tatsächliche Folgen zu haben, und diese Folgenlosigkeit sorge dann wiederum für einen trägen Ablauf von geschichtlichen Ereignissen. Politische oder soziale Ereignisse hätten „von sich keine Kraft mehr“, um „uns noch zu erschüttern, sondern spulen sich ab wie ein Stummfilm“, schrieb er, und bezog sich damals noch auf das Fernsehen.

Mit Hilfe des Internets haben wir heute noch weitaus plastischer vor Augen, woran Baudrillard dachte: Unzählige Nachrichtenschnipsel fluten über unsere Bildschirme, jedes Kleinstereignis wird in Text und Bild reproduziert.

Wie soll sich etwas ereignen, wenn man seine Umgebung durch einen Bildschirm wahrnimmt? Oder aus der Sicht eines Autors: Wie soll man Geschichten über eine Welt erzählen, in der keine Geschichte mehr stattfindet? Zum Lauf der Geschichte kommt die Vereinzelung. Schon seit Beginn des Sturm und Drang und der Romantik hatte die Literatur begonnen, den einzelnen und seine Gedanken und Empfindungen ins Zentrum zu stellen.

Eine vertauschte Hautfarbe macht noch keine gute Geschichte, ein vertauschtes Geschlecht ebensowenig. Denn der fade Perspektivwechsel ist nicht das Produkt eines tatsächlichen Interesses an künstlerischem Gehalt, sondern das einer Ideologie.

Deutlicher als jede Wissenschaft registrierte sie, daß der Mensch des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts nicht mehr bloß Teil eines sozialen Miteinanders war, sondern vielmehr außerhalb davon stand; mehr und mehr dazu in der Lage war, sich seinen Mitmenschen zu entfremden. Damit einher ging eine scheinbar zunehmend komplexere Psyche. Werther etwa litt nicht bloß an einem gewissen Außenseiterstatus in der Wahlheimer Gesellschaft, sondern dieser Status war untrennbar verknüpft mit seiner Wahrnehmung. Er agierte nicht in der Welt und mit seinen Mitmenschen, sondern Welt und Menschen hinterließen Eindrücke bei ihm; beinahe als wäre da zwischen der Figur und seiner Umwelt eine Art Glasscheibe. Die Literatur der Zeit zeigte somit etwas auf: die Entdeckung der Innenwelt als Folge von Atomisierungs- und Entfremdungsprozessen.

Ein ähnlicher Prozeß des Nachspürens ist nun in der heutigen Zeit gefordert. Denn was damals die Industrialisierung war, ist heute die Digitalisierung, und deren Formen der Entfremdung addieren sich lediglich zu den bereits vorhandenen. Eine fest konturierte Gesellschaft, von der man sich entfernen kann, gibt es in dem Sinne ohnehin nicht mehr; an ihre Stelle ist bereits eine Welt von losen Netzwerken getreten, in welchen sich höchstens temporär Gemeinschaften bilden. In bestimmten Situationen entwickeln sich gegenüber bestimmten Personen Bindungsverhältnisse. Oder eben auch nicht.

Einer im letzten Jahr veröffentlichten Studie zufolge verbringen US-amerikanische Jugendliche derzeit weniger Zeit mit ihren Freunden als jede vorherige Generation. Wenig überraschend schnellte zeitgleich das subjektive Gefühl von Einsamkeit in die Höhe. Die stärkste Veränderung beider Graphen ist dabei seit 2010 festzustellen, zeitlich passend zur Popularisierung des Smartphones. Längst ist damit die japanische Epidemie des Hikikomori, der Zimmer und Haus nicht mehr verläßt und seine Tage vor dem Bildschirm verdämmert, in den Westen geschwappt.

Zum Ende der Geschichte tritt somit der Tod des Sozialen, ja sogar der Selbstwahrnehmung. Vielleicht wurde deshalb die Identitätspolitik heute zu einer der prägenden Erzählungen innerhalb der Kulturszene. Wo sich das gesellschaftliche Gefüge auflöst, die eigene Identität fragwürdig wird und sich keine Geschichte mehr ereignet, bieten die Narrative von unterdrückten Minderheiten und unterdrückerischer Mehrheit eine Großerzählung an, nach der sich die heutige Welt wieder strukturieren läßt. Die tatsächlichen Besonderheiten unserer Epoche, die Leere, die Einsamkeit und die Dekadenz werden dabei nicht erzählt; tatsächlich wird allgemein nichts Neues mehr erzählt. Man kann all die bereits erzählten Geschichten der vergangenen Jahrzehnte noch einmal hervorkramen und tauscht einfach die Figuren aus: aus weiß wird People of Colour, aus Mann wird Frau. Fertig ist die Revolution. Man denke an die Neuverfilmung von „Berlin Alexanderplatz“ oder „Der Fall Mersault“ von Kamel Daoud.

Das ist natürlich um so ärgerlicher, als daß die Vertreter der politisch korrekten Identitätspolitik gerade für sich in Anspruch nehmen, völlig neue Geschichten und Perspektiven auszuloten. Doch eine vertauschte Hautfarbe macht noch keine gute Geschichte, und ein vertauschtes Geschlecht macht es ebensowenig.

Kann es in diesem Fall auch gar nicht, denn der fade „Perspektivwechsel“ ist nicht das Produkt eines tatsächlichen Interesses an künstlerischem Gehalt, sondern das einer Ideologie. Daß die Kulturszene in den meisten westlichen Ländern dabei begeistert auf den Zug aufspringt, muß als Kapitulation verstanden werden: es ist das Geständnis, daß man wirklich gar nichts mehr zu erzählen hat, daß man der Lebensrealität des 21. Jahrhunderts künstlerisch hilflos gegenübersteht. Das Publikum merkt auch selbstverständlich das, und es ist sicher kein Zufall, daß der Kult um Nostalgie und Retro-Ästhetik sich gerade unter künstlerisch interessierten Menschen ausbreitet: Man denke an die mit Versatzstücken der Achtziger und Neunziger versehene Ästhetik der Vaporwave-Musik oder die Popularität von analogen Kameras.

Wenig erstaunlich daher, daß sich Publikum und Feuilleton bei einigen Autoren plötzlich sehr einig sind, daß hier nicht einfach ein netter und bedenkenswerter Roman geschrieben wurde, sondern etwas Bedeutendes geschieht. Instinktiv scheinen doch viele zu ahnen, woran unsere Literatur und unsere Welt krankt: es handelt sich meistens um Autoren, die sich dezidiert in die Abgründe unseres modernen Lebens einfühlen, die die Gegebenheiten unserer Zeit tatsächlich in der Literatur erfassen und zugleich als Verlust kennzeichnen. Chad Harbach bemerkte im amerikanischen Magazin n+1, „Infinite Jest“ von David Foster Wallace sei „der zentrale amerikanische Roman der letzten 30 Jahre, ein Stern, um den alle schwächeren Werke kreisen“. Über „Elementarteilchen“ von Michel Houellebecq urteilte Clemens Setz in der Zeit, es sei „das tröstlichste Buch“, welches ihm „je untergekommen sei“.

Zwischenmenschliche Beziehungen spielen in der Handlung keine Rolle, die Figuren pflegen weder Freundschaften noch romantische Partnerschaften. Die einzige Bindung besteht zu Suchtmitteln, sei es ein Fernsehbildschirm oder Marihuana. 

„Wir alle verehren und wir alle haben einen religiösen Impuls“, erklärte der US-Schriftsteller Wallace 2003 in einem Interview. Sein 1996 erschienener Roman „Infinite Jest“ („Unendlicher Spaß“) erzählt davon, wie sich eine Gruppe von Studenten und die Insassen einer Entzugsklinik unabhängig voneinander auf die Suche nach dem titelgebenden Film machen, der so fesselnd sein soll, daß der Zuschauer buchstäblich vor dem Bildschirm verdurstet. In einer postmetaphysischen Welt ist der Film sozusagen der heilige Gral; die Sucht, als eingeübtes Ritual, wird zur Ordnungsstruktur der modernen Lebenswelt. Die Studenten rauchen etwa im Keller der Universität heimlich Marihuana und trinken „verdächtig belebendes Gatorade“, um sich durch den Schulalltag zu bringen. Es geht dabei nicht um Spaß und Hedonismus. Gerade das Zwanghafte und Freudlose des Konsumierens wird betont; die dahinterstehende Langeweile, das Mehr-tot-als-lebendig-Sein.

In einer der emotionalsten Szenen beschreiben denn auch die Teilnehmer eines Anonymen-Alkoholiker-Treffens ihre Erkenntnis über das Wesen der Sucht als eine Begegnung mit einer Art heidnischen Gottheit: eine augenlose Fratze mit Reißzähnen, die ihnen aus dem eigenen Gesicht entgegenlächelt und höhnisch grinst, „und jetzt merkst du, daß du gelinkt worden bist, königlich verarscht, und trotzdem kommst du nicht davon los“.

Trotz des düsteren Bildes einer unfernen Zukunft scheut sich der Roman dabei merklich, Alternativen anzubieten. Zwischenmenschliche Beziehungen spielen in der Handlung keine Rolle, die Figuren scheinen weder Freundschaften noch romantische Partnerschaften zu pflegen. Die einzige Bindung besteht zu Suchtmitteln, sei es nun ein Fernsehbildschirm oder Marihuana. Was sagt es also aus, wenn, wie Richard Kämmerlings in der FAZ schrieb, Wallaces Roman für das 21. Jahrhundert das sei, was „Der Mann ohne Eigenschaften“ für das 20. gewesen sei?

Das zweite große Beispiel dürfte Michel Houellebecq sein, und wer seine Romane kennt, wird verstehen, wieso. Wer hätte je so über die Kälte zwischen Menschen schreiben können? Seine Hauptfigur ist so etwas wie der ewige Werther der Gegenwart: immer ist er durch eine unsichtbare Glasscheibe von seinen Mitmenschen getrennt. In „Elementarteilchen“ etwa ist diese Figur zu Beginn nicht in der Lage, mit dem Mädchen anzubändeln, welches in ihn verliebt ist, und starrt danach aus seinem Zelt in den Regen: „Plötzlich hatte er die Vorahnung, daß sein ganzes Leben diesem Augenblick gleichen würde. Er würde die menschlichen Regungen nur durchqueren, manchmal würden sie ihm sehr nahe kommen; andere Menschen würden das Glück oder die Verzweiflung kennenlernen; all das würde ihn niemals wirklich betreffen oder erreichen.“

Der Erzähler scheint diese Wahrnehmung mit seinen Figuren zu teilen; die Personen in den Romanen bleiben immer blaß und kommen dem Leser nicht nahe. Selbst die Hauptfigur, in dessen selbstumkreisender Wahrnehmung wir durchgängig feststecken, wird emotional nicht zugänglich. Wie bei dem selbstironischen Meme sind die Figuren bindungslos, sogar sich selbst gegenüber. Zärtlichkeit entwickelt sich nur gegenüber Gegenständen und Orten; später zieht die Hauptfigur in ein Studentenwohnheim, ignoriert Briefe von Freunden und findet sich alleine in dem Gebäudekomplex wieder: „Die Mensa war noch nicht geöffnet; er kaufte Thunfisch in Dosen im Supermarkt Continent-sur-Yvette, dann kehrte er wieder ins Wohnheim zurück. Es wurde dunkel. Er ging durch leere Flure.“ Houellebecq beschreibt diese Szenen emotionaler Verwahrlosung, als handele es sich um eine ungeheuer schöne und geheime Erfahrung, die ein Mensch machen könne.

In „Unterwerfung“ ist es eine strenge, traditionelle Gesellschaft, in die sich die Hauptfigur flüchtet; in „Serotonin“ spielt sie mit Mord- und Selbstmordgedanken, verwirft erstere aber, als sie realisiert, daß es im Gefängnis, anders als im nahen Supermarkt, kein 14sortiges Hummusangebot geben wird. Und vermutlich erklärt sich der zärtliche Blick auch daraus: Wenn es schon keinen Ausweg gibt, so soll wenigstens das Festhalten in der Literatur einen Augenblick der Erlösung bieten.






Lorenz Bien, Jahrgang 1991, ist Kurator des unabhängigen Nullpunkt-Filmfestivals in Köln. Der gebürtige Wuppertaler studierte Germanistik und Philosophie an der Universität Köln.

 nullpunktfestival.de

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