© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 43/20 / 16. Oktober 2020

Tribunal gegen das Kaiserreich
Der Historiker Eckart Conze hat aus Anlaß der 150. Wiederkehr der Gründung des Deutschen Reiches seine Interpretation des Kaiserreichs vorgelegt. Das Ergebnis ist eine wutschäumende Abrechnung mit Bismarcks Staat, der nicht nur an Auschwitz, sondern auch am Rechtspopulismus von heute schuld sein soll
Karlheinz Weißmann

Der Name des Historikers Eckart Conze ist auch außerhalb von Fachkreisen bekannt. Das hat damit zu tun, daß er maßgeblich an dem von Joschka Fischer als Außenminister in Auftrag gegebenen Werk „Das Amt und die Vergangenheit“ beteiligt war. Das Buch sollte die Geschichte des Außenwärtigen Amtes (AA) und des diplomatischen Dienstes während der NS-Zeit und der Nachkriegsjahre erhellen. Die Veröffentlichung führte allerdings zu einem Eklat. Die Kritik war scharf. Horst Möller, der ehemalige Leiter des Instituts für Zeitgeschichte, sprach von einem „fehlerhaften (...) tendenziös vermarkteten, skandalösen Buch“, und das Außenministerium – mittlerweile unter anderer Leitung – wollte „Das Amt und die Vergangenheit“, das, wie später peinlicherweise bekannt wurde, nachweislich nur auf marginalstem Aktenstudium im Archiv des AA beruhte, nicht mehr als offizielle Sicht der Dinge verstanden wissen.

Der Reputation Conzes hat der Vorgang kaum geschadet. Er lehrt nach wie vor an der Universität Marburg und sitzt in diversen einflußreichen Kommissionen. 2018 legte er ein umfangreiches Buch zum Versailler Vertrag vor, das pflichtschuldigen Beifall im Kollegenkreis fand, und nun erscheint vom „Spiegel-Bestseller-Autor“ – so die Verlagswerbung – ein schmalerer Band aus Anlaß der 150. Wiederkehr der Gründung des Deutschen Reiches.

Conzes Titel „Schatten des Kaiserreichs“ spielt auf eine Formulierung des Historikers Thomas Nipperdey an. Aber wer hofft, man werde ihm eine sorgfältige Darstellung und maßvolle Interpretation nach dem Vorbild Nipperdeys bieten, dürfte ebenso enttäuscht sein wie derjenige, der erwartet, hier habe ein Autor Nipperdeys Warnung beherzigt, das Kaiserreich nicht als Fleischwerdung von Heinrich Manns „Untertan“ aufzufassen. Zwar liefert Conze eine Darstellung, die bis zum Jahr 1871 langweilig, aber nicht problematischer als andere ist, doch den Überblick zur Geschichte des Wilhelminismus kann man nur als verkürzend und polemisch bezeichnen.

Die Ursache dafür liegt in Conzes Entschlossenheit, die „Geschichte des Kaiserreichs mit dem Fluchtpunkt des Nationalsozialismus und der Ermordung der europäischen Juden“ zu betrachten, des „Spezifikums“ unserer Vergangenheit. Es geht ihm nicht darum, zu sagen, „wie es eigentlich gewesen ist“ (Leopold von Ranke), sondern darum, wie es eigentlich hätte sein sollen. Vor seinem Tribunal kann nicht einmal die patriotische Bewegung des Vormärz bestehen – wegen ihrer „illiberalen Potentiale“ –, und erst recht nicht das alte Preußen oder das Bismarckreich, das unter das Verdikt militaristisch, undemokratisch, zentralistisch, exkludierend fällt. Besser wäre es nach Conzes Meinung gewesen, hätten sich die Deutschen mit einer machtlosen, zersplitterten, multikulturellen Existenz in der Mitte Europas abgefunden (Conze nennt das die „Friedensordnung“ des Wiener Kongresses) und auf den Ausbau von Sozialwesen und Gleichberechtigung aller denkbaren Minderheiten konzentriert.

Ganz neu ist dieses Deutungsmuster nicht. Aber Conze überbietet noch, was einem gewöhnlich im Rahmen der These vom deutschen „Sonderweg“ geboten wird. Das heißt, ihm genügt nicht mehr der Nachweis, daß man Auschwitz als Konsequenz von Welschen- und Judenhaß, Teutomanie und Staatsvergottung betrachten muß, während sich Frankreich, Großbritannien und die USA unbeirrt auf dem Marsch in die Moderne befanden. Denn das strahlende Bild „des Westens“ hat mittlerweile dunkle Flecke bekommen (wie jüngst die Vorwürfe aus dem Kreis der „Black Lives Matter“-Bewegung dokumentieren). Conze geht es deshalb um den Kontrast zwischen der deutschen Wirklichkeit der Jahre 1871 bis 1918 und dem von ihm entworfenen menschenrechtlichen, frauenfreundlichen, egalitären und inklusiven Utopia.

Die Verve, mit der Conze seine Position vertritt, bleibt unverständlich, wenn man das Bedrohungsszenario ausblendet, das er gleichzeitig entwirft. Auf den letzten fünfzig Seiten des Buches geht es deshalb gar nicht mehr um die Vergangenheit, sondern um die Gegenwart. Folgt man der Argumentation Conzes, dann gab es bis dato kaum Anlaß zur Besorgnis. Die nach dem Ende der Ära Adenauer erreichten Standards im Hinblick auf die „politische und kulturelle Liberalität des Landes“ schienen gefestigt. Das war nicht zuletzt am geschichtspolitischen „Konsens“ abzulesen, der nach dem Sieg der Fischer-Schule („Griff nach der Weltmacht“ von Bismarck oder Wilhelm II. bis Hitler) und der Nolte-Feinde („Singuläre Schuld“) fest etabliert schien. 

Damit ist es nun vorbei. Der dünne Firnis der Zivilisiertheit zeigt Risse: „Unter der Oberfläche einer liberalen und demokratischen Gesellschaft, die sich vermeintlich aus den schwarz-weiß-roten Traditionen deutscher Nationalstaatlichkeit gelöst hat“, blieb ein Morast, auf dem der „Rechtspopulismus“ gedeiht. Der gewinnt nach Conzes Beobachtung zunehmend Einfluß. Was er auch damit erklärt, daß in der Geschichtswissenschaft „Revisionisten“ am Werk sind. Die leisten intellektuelle Schützenhilfe, indem sie den Populisten Argumente liefern, sich aktuell auf die Seite des Hauses Hohenzollern schlagen, wenn es um Wiedergutmachungsfragen geht, und die Geschichte des Kaiserreichs systematisch „weichzeichnen“, um es als Bezugspunkt für die deutsche Identität zurückzugewinnen.

Merkwürdigerweise ist der Denkmeister dieser „Neonationalisten“ ein Ausländer: der australische Historiker Christopher Clark, der es schon wagte, Preußen zu rehabilitieren. Folgt man Conze, dann hat Clarks Buch „Die Schlafwandler“ (englisch 2012, deutsch 2013) einen kaum wiedergutzumachenden Schaden angerichtet, indem es die Deutschen von der Verantwortung für zwei Weltkriege entlastete. Eine gedeihliche Zukunft kann sich Conze aber nur mit belasteten Deutschen vorstellen. 

Angesichts der dem Fortschritt des Menschengeschlechts drohenden Gefahr darf der Wissenschaftler nicht im Elfenbeinturm bleiben. Er ist aufgerufen, Stellung zu nehmen und erzieherische Arbeit an der Öffentlichkeit zu leisten. Eine Vorstellung vom Beruf des Historikers, die derjenigen ähnelt, die die von Conze so tief verachteten „Borussen“ Heinrich von Sybel oder Heinrich von Treitschke vertraten. Allerdings konnte man Sybel oder Treitschke, bei aller Neigung zur Parteinahme (nicht gegen, sondern für das Vaterland), kaum bestreiten, daß sie ihr Handwerk beherrschten und zwischen Darstellung der Vergangenheit und eigener Stellungnahme zu trennen wußten. Etwas, das Conze eben nicht gelingt, der zwar „historische Analyse und geschichtspolitische Intervention“ ankündigt, aber nur „Intervention“ liefert. Von „Analyse“ keine Spur.

Eckart Conze: Schatten des Kaiserreichs. Die Reichsgründung von 1871 und ihr schwieriges Erbe. dtv Verlagsgesellschaft, München 2020, gebunden, 288 Seiten, 22 Euro