© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 43/20 / 16. Oktober 2020

Jede Ordnung beruht auf Grenzen
Der Althistoriker Alexander Demandt über die Kontinuität von Grenzen in der Geschichte der letzten Jahrtausende
Eberhard Straub

Der Mensch ist ein begrenztes Wesen. Mit seinem Körper tritt er anderen in ihrer Begrenztheit und Eigenwilligkeit gegenüber. Alles Lebendige stößt auf eine unüberwindliche Grenze: den Tod. Nichts in der Welt dauert, auch die großen Erscheinungen wie Völker, Reiche, Staaten als Einrichtungen, die Beständigkeit in begrenzten Räumen verheißen wollen und sollen, waren und sind stets von der Übermacht der immer beweglichen, Untergänge und Übergänge bewirkenden Zeit bedroht. Grenzen, von deren Geschichte und Gegenwart der Althistoriker Alexander Demandt in seinem Buch handelt, sind nicht nur eine politisch-historische Gegebenheit. Ohne Abgrenzungen und Unterscheidungen vermag sich kein denkender und fühlender Mensch unter dem Eindruck der verwirrenden Wirklichkeiten zurechtzufinden.

Sach- und Sinngrenzen, Raum- und Zeitgrenzen erlauben es erst dem sich umgrenzenden Ich mit den anderen verträglich auszukommen, sich mit ihnen zu verständigen, also zu vertragen. Gesellschaftliches Zusammenleben in einer halbwegs stabilen Ordnung setzt eine praktische Weltklugheit voraus, die gerade einen unbegrenzten Enthusiasmus fürchtet: Seid umschlungen Millionen – diesen Kuß der ganzen Welt, und deshalb einen Wirklichkeitssinn schult und bildet, der dabei hilft, zu erkennen, was unter wechselnden Umständen überhaupt möglich gemacht werden kann.

Dieser Wirklichkeitssinn erinnert an Grenzwerte und Grenzsituationen, an Schmerzgrenzen und vor allem an die  geistige Eingrenzung, um zu klaren Begriffen zu gelangen, die davor bewahren, sich im Grenzenlosen zu verlieren und damit in unbestimmten Sphären des Wünschbaren und Verheißungsvollen. Die klassischen Griechen und Römer, an die Alexander Demandt immer wieder erinnert, mahnten zum Maßhalten, vor Übertreibungen, auch vor der Überschätzung sogenannter Weltweisheit und Wissenschaftlichkeit, weil auch die Philosophen und Naturforscher nur über beschränkte Einsichten verfügten. Die Wissenschaft klärt nicht immer auf, sie kann vielmehr gerade den aufblähen, der in ihrem Namen vorgibt, Richtlinien vorgeben zu können, die zuweilen eine erschütterte Ordnung endgültig in Unordnung stürzen. Sie bringt damit gar nicht so selten Politiker, die unbedingt gestalten wollen, um die Einsicht in ihre begrenzten Möglichkeiten.

Jede Ordnung beruht auf Gesetzen, Übereinkünften, auf der Anerkennung von Grenzen. Ohne diesen Verzicht auf Willkür und schrankenlose Eigenmächtigkeit gäbe es keine klassische Kunst, keine klassischen Philosophen und auch keine klassische Staatskunst und immer neu variierte Lehre politischer Vernunft. Zu einer politischen Ordnung gehört zumindest für die Europäer seit der Antike, auch den Staat in seine Grenzen zu weisen und die Grenzen des Rechtes zu beachten. 

Denn auch dem Recht sind Grenzen gesetzt, weil es Räume eigenen Rechtes gibt, meist von den Göttern und später der Kirche geheiligt und gehegt, die Achtung verdienen, um eine gesellschaftlich-politische Vereinigung von der Organisation einer Räuberbande zu unterscheiden. Auf der Unterscheidung von Mein und Dein, sanktioniert durch Zäune, Steine, Bildsäulen und Schranken, beruht die tranquillitas ordinis, die Ruhe öffentlicher Ordnung. Das Recht schwebt nicht über den Dingen in rein ideellen Bezirken, es ist an den Ort gebunden, weshalb die Römer von der allgerechten Erde sprachen im Gegensatz zum freien Meer, auf dem alles Welle ist, und das schwer Hoheitsgrenzen unterworfen werden kann, um die Selbstherrlichkeit der Piraten zu zügeln.

Was im Inneren der Staaten oder ihrer Vorläufer geschieht, auf Grenzen zu achten, das gilt nicht minder für das zwischenstaatliche Zusammenleben, das ohne wie auch immer festgelegte Grenzen hilflos der reinen Gewalt und dem ungezügelten Egoismus ausgeliefert wäre. Daß man Grenzen nicht schließen und schützen könne, wie sogenannte Menschenfreunde unter den Deutschen ab 2015 beharrlich verkündeten, ist eine vollkommen neue und alles andere als menschenfreundliche Botschaft. 

Jedes gedeihliche Zusammenleben unter Menschen erfordert die Achtung vor Staatsgrenzen, vor anderen Rechtsgebieten, die sich vor Interventionen oder Sanktionen ihrer Nachbarn absichern wollen und müssen. Der Egoismus der Staaten und Staatsvereinigungen, ob des Attischen Seebundes der Athener oder der Europäischen Union und „des Westens“, läßt sich immer nur mühsam zähmen, aber ohne Grenzen würde er die dauernde Herrschaft des Unfriedens heraufbeschwören. Darüber unterrichtet die Geschichte, auch außerhalb Europas. Friede ist deshalb oft nur vorübergehende Abwesenheit des Krieges.

Grenzen werden gesetzt und durchgesetzt. Die jeweils Mächtigen bestimmen zu ihrem Vorteil den Verlauf der immer flexiblen Grenzen. Die Mächtigen können – wie der Römer Augustus -– ihr Reich bewußt begrenzen, sie können, wie Bismarck, das Deutsche Reich für saturiert erklären, zufrieden mit den für es zuträglichen Grenzen, aber insgesamt ist Macht oder mangelnde Macht immer ein bewegliches Element, das nach Expansion trachtet, nach natürlichen Grenzen, nach nationaler Einheit oder hegemonialer Führung größerer Verbände. 

Das Selbstbestimmungsrecht der Völker hat nicht für Ruhe gesorgt, sondern nur die Zahl der Staaten vermehrt, die ungeduldig sind in ihren engen Räumen, die nicht ihren Interessen genügen. Sie wehren sich gegebenenfalls gegen die Schiedssprüche jeweiliger Großmächte oder gegen die normative Kraft des Faktischen.

Politische Grenzen haben es mit Macht zu tun und der zu ihr gehörenden Realpolitik, Geopolitik und Machtpolitik. Grenzen sind selten Erzeugnisse der Vernunft und der Einsicht, wie Alexander Demandt all denen zu bedenken gibt, die vom Recht reden und damit meinen, die Macht bändigen zu können. Ohne Macht läßt sich nichts machen. Es kommt darauf an, wie aus Macht und Gewalt Recht werden kann. Was Recht sein soll, das lehren die Professoren. Was Recht bewirkt oder nicht bewirkt, ist Sache der Politik und Politiker. Die Verrechtlichung des Politischen öffnet keinen Ausweg. Verträge sind wie Spinnweben. Fliegen bleiben darin hängen, Wespen zerreißen sie. Daran hielten sich antike Weltweise in ihrer heiligen Nüchternheit. Das meiste Unglück in der Gegenwart rührt daher, daß die Politiker und ihre Ratgeber die klassischen Sprachen nicht mehr beherrschen und mit deren praktische Weltvernunft nicht mehr vertraut sind.

Alexander Demandt: Grenzen. Geschichte und Gegenwart. Propyläen Verlag, Berlin 2020, gebunden, 656 Seiten, Abbildungen, 28 Euro