© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 43/20 / 16. Oktober 2020

Speer gegen Schwert
Der Kölner Althistoriker Thomas Fischer hat eine exzellente militärgeschicht-liche Monographie über die Germanengrenze des Römischen Reiches vorgelegt
Ludwig Witzani

Als Gladius bezeichnete man das Kurzschwert der römischen Legionäre. Sein Konterpart war die Framea, die germanische Lanze, mit der dem Gegner schon aus einer gewissen Distanz der Garaus gemacht werden konnte. Mit Gladius und Framea, aber auch mit dem Langschwert Spatha oder der Wurfwaffe Plumbata standen sich Römer und Germanen ein halbes Jahrtausend lang an Rhein und Donau gegenüber. Als Legionäre, als Kolonisten, als Plünderer, Piraten oder Foederati spielten sie ihre wechselvollen Rollen im großen Drama der spätantiken Geschichte: dem Abwehrkampf Roms gegen die Germanen an den Grenzen des Römischen Reiches. 

Dieses Prequel zur Gründungsgeschichte Europas ist oft erzählt worden, manchmal als Beginn eines neuen Weltalters, öfter als melancholischer Grabgesang auf das Sterben eines Imperiums. Das vorliegende Buch des Kölner Althistorikers Thomas Fischer vermeidet diesen hohen Ton. Fischers Thema ist die Militärgeschichte der Grenze „von Cäsar bis Chlodwig“ auf der Grundlage aller verfügbaren Quellen, das heißt nicht nur der Texte von Tacitus, Plutarch, Cassius Dio und anderen, sondern auch unter Einbezug von neueren archäologischer Forschungsergebnissen. 

So wird zum Beispiel der Untergang der römischen Legionen im Teutoburger Wald auch anhand aktueller Grabungsfunde dargestellt. Auf dem Feld von Kalkriese bei Osnabrück wurden zerhackte Schilde, Helme, in aller Eile weggeworfene Wertgegenstände und Leichenreste mit Tötungsspuren gefunden, was dem bloß erzählten Schrecken der Varusschlacht eine bedrückendere Konkretisierung verleiht.  

Die neun Kapitel des vorliegenden Buches spiegeln diesen kombinierten Zugang wider. Sie verbinden eine Chronologie der Grenze mit systematischen Aufrissen der römischen und germanischen Militärorganisation sowie einer detaillierten Darstellung der römischen Provinzen vom Niederrhein bis Pannonien. Zugleich überzeugt das Buch durch den Einbezug treffend ausgewählter historischer Details, ohne die jede Geschichtsdarstellung langweilig wird. Wer hätte gedacht, daß sich die spätere Seetüchtigkeit der Holländer schon in der berühmten Reitertruppe der Bataver andeutete, deren Mitglieder in der Lage waren, in voller Montur samt Pferd ganze Flüsse zu durchschwimmen. Oder daß die Begriffe Ost- und Westgoten nichts mit den Himmelsrichtungen zu tun haben, sondern Verballhornungen von „Visigothi“ (edle Goten) oder „Ostrogothi“ (glanzvolle Goten) bedeuteten. Man sieht, an Selbstbewußtsein mangelte es den germanischen Stämmen nicht.   

Die eigentliche Ereignisgeschichte der Grenze begann mit den Kimbern und Teutonen, die wie eine apokalyptische Heimsuchung über die römische Republik hereinbrachen. Dann erschien Cäsar, der eine sich andeutende germanische Völkerwanderung durch die Etablierung der Rheingrenze verhinderte.   Immerhin gelang es den Römern nach der Katastrophe der Varusschlacht, die Germanen vor ihren Grenzen anderthalb Jahrhunderte lang mit den Mitteln der Diplomatie gegeneinander auszuspielen. Erst mit den Markomannenkriegen begann die Krise des Reiches, die zugleich eine Krise der Grenze war und erst durch die Reichsreformen Diokletians notdürftig gelöst wurde. Bei der Darstellung dieser Abläufe wird eine Grundstruktur aller Staatlichkeit immer wieder deutlich: die Abhängigkeit der Staatsstruktur von der Wehrverfassung, die ihrerseits eine Funktion der Grenze ist.  

Die Germanen selbst erwiesen sich in diesem Kontext übrigens als ein äußerst fluider Gegner. Stämme erschienen und verschwanden (wie etwa die Cherusker), verbanden sich zu neuen Stämmen oder separierten sich wie etwa die Langobarden von den Sueben. So entstand etwa das Großvolk der Franken aus dem Zusammenschluß der Brukterer, Chamaver, Chattarier und Ampsivarier, während sich die Alamannen aus der Kombination stammesübergreifender Gefolgschaftsverbände entwickelten. 

Der letzte Akt des Dramas wurde eingeleitet, als die Römer aus finanziellen und demographischen Gründen damit begannen, die Germanen als „Foederati“ zur Grenzwacht einzusetzen. Was das konkret bedeutete, läßt sich gut am Rheinland studieren. Lange bevor Odoaker den letzten weströmischen Kaiser in Rente schickte, befand sich die Niederrheingrenze schon auf beiden Seiten in germanischer Hand. Die Eroberung von Köln 459 durch die Franken schloß diesen finalen Prozeß der schleichenden Türöffnung nur ab.     

So endete das Drama an der Grenze ohne Happy-End, und das römische Reich ging unter. Die Frage warum, eine der Grundfragen der Geschichtsphilosophie, ist ausdrücklich nicht Gegenstand des vorliegenden Buches. Dazu haben Gibbon, Voltaire, Grant, Burckhardt, Spengler, Toynbee, Max Weber und viele andere Grundlegendes gesagt, wenngleich alle auf einer unvergleichlich schmaleren Faktenbasis als der Autor, der seiner Selbstbegrenzung bis zum Ende treu bleibt. Im Rahmen dieser thematischen Fokussierung hat Thomas Fischer eine exzellente militärgeschichtliche Monographie über die Germanengrenze des Römischen Reiches auf der Grundalge des aktuellen Forschungsstandes in einer auch für Laien gut lesbaren und reichlich bebilderten Weise zusammengefaßt.

Thomas FIscher: Gladius. Roms Legionen in Germanien. Verlag C.H.Beck, München 2020, gebunden, 344 Seiten, Abbildungen, 26 Euro