© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 43/20 / 16. Oktober 2020

Der Anti-Habermas
Vor der „Großen Transformationen“ bewahrt uns nur alteuropäische Bildung: Der Philosoph Hans Blumenberg in zwei opulenten Biographien
Dirk Glaser

Aus der Öffentlichkeit, die er auch aufgrund unerfreulicher Erfahrungen während des 68er-Kulturbruchs ohnehin lieber gemieden hatte, zog sich der seit 1970 in Münster lehrende Philosoph Hans Blumenberg (1920–1996) nach seiner Emeritierung in die häusliche Quarantäne zurück. So konsequent, mit der Außenwelt nur noch notfalls korrespondierend oder telefonierend, daß Spötter Zweifel anmeldeten, ob der unablässig dicke Bücher und fein ziselierte Zeitungsglossen produzierende „Eremit von Altenberge“ mehr als ein Phantom sei. 

Doch, hierin dem Bargfelder Einsiedler Arno Schmidt (1914–1979) vergleichbar, in dem Maß wie sich Blumenberg unsichtbar machte, wuchs sein Ruhm. Nicht dem feuilletonistisch zur „philosophischen Weltmacht“ hochgejubelten, penetrant allgegenwärtigen Jürgen Habermas, sondern Blumenberg, dem „gelehrtesten Denker des Landes“ (Eckhard Nordhofen), erkannten Autoritäten wie Odo Marquard die Palme zu, in seinem Metier „das wohl faszinierendste Œuvre der Nachkriegszeit in Deutschland“ geschaffen zu haben.

Gleichwohl fehlte es lange an einer Gesamtdarstellung, die die scheinbare Schattengestalt und das Labyrinth ihrer ideenhistorischen „Problemkrimis“ (Marquard) in den zeitgenössischen Kontext zwischen Weimarer und Bonner Republik einfügt. Diese Lücke versuchen nun die zum 100. Geburtstag am 13. Juli dieses Jahres (JF 29/20) erschienenen Bücher von Rüdiger Zill und Jürgen Goldstein zu schließen, deren Opulenz durchaus Blumenberg-Kaliber erreicht. Eine Biographie im üblichen Sinne zu liefern, die Privates und Öffentliches verzahnt, sich detailliert Herkunft und sozialem Umfeld widmet, dem Bildungs- und Karriereweg nachspürt, um den „Menschen Blumenberg“ zu vergegenwärtigen – darauf erhebt allerdings nur der Potsdamer Philosophiehistoriker Zill Anspruch. Seinem Koblenzer Kollegen Goldstein geht es dagegen ausdrücklich nicht um den „Langstreckendenker“ als Person, sondern um deren „diskreten Selbstausdruck“ im Werk, den er in einer „Denk-Biographie“ nachzeichnen möchte. 

Für Einsteiger in dieses so hochkomplexe Denkgebäude ist Goldsteins strikt „philosophisches“ Portrait daher eher ungeeignet. Während Fortgeschrittene beklagen dürften, daß der Verfasser viel zuviel referiert und viel zuwenig analysiert, um über bisher vorgelegte Interpretationen hinaus bahnbrechend neue Einsichten vermitteln zu können. So tappt er genau in die Falle, vor der ihn ein von Blumenberg adaptiertes Adorno-Zitat gewarnt hat: „‘Philosophie ist wesentlich nicht referierbar. Sonst wäre sie überflüssig; daß sie meist sich referieren läßt, spricht gegen sie’.“ In diesem Verdikt sah Goldstein offenbar eine Herausforderung seines Ehrgeizes, es dennoch anzupacken. Um dem Vorwurf des Reduktionismus vorzubauen, stellt er Blumenbergs Rekonstruktion des abendländischen Weltbildwandels chronologisch penibel, von der „Legitimität der Neuzeit“ (1966) über die „Höhlenausgänge“ (1989) bis zur „philosophischen Anthropologie der Distanz“ in der nachgelassenen „Beschreibung des Menschen“ (2006), in epischer Breite dar. Stets ängstlich bemüht, die großzügige Architektur seiner Nacherzählungen nicht dadurch zum Einsturz zu bringen, daß er gegen des Meisters Veto dessen Lebenswerk auf eine „Quintessenz reduziert“. Was oft den Autor dazu führt, den roten Faden zu verlieren. 

Dessen Anfang sucht man ohnehin am besten in einer anderen „Denk-Biographie“ Goldsteins, jener Georg Forsters (Berlin 2015), des Weltumseglers, Aufklärungsliteraten, Jakobiners und Mitbegründers der kurzlebigen Mainzer Republik von 1792. Anders als bis 1989 von SED-Historikern behauptet, die Forsters Schriften dem „progressiven Erbe“ zuschanzten, ist der skeptische Rationalist für Goldstein zu Recht kein Vorläufer von Karl Marx und kein Stichwortgeber der Fortschrittsreligion, deren Gläubige auf die klassenlose Gesellschaft als Endziel der Geschichte eingeschworen sind. Denn, so weist er nach, schon bevor das jakobinische Schreckensregime den Augenzeugen Forster in Paris aus allen politischen Träumen riß, habe seine pessimistische Anthropologie ihn argwöhnen lassen, ob nicht die elementar triebhafte Natur des Menschen jede Hoffnung darauf zerstört, diesem denkenden Tier könnte einmal eine vernunftgemäße Gesellschaftsordnung gelingen. Von Forster zu Blumenberg ist es für Goldstein nur ein Katzensprung gewesen, da exakt dieses Mißtrauen in die Kraft zu vernünftiger Selbstermächtigung sie zu Geistesverwandten macht.

Rüdiger Zill, der dafür aus dem Vollen des Blumenberg-Nachlasses im Deutschen Literaturarchiv Marbach schöpft und der aus diesen Materialmassen eine farbige Biographie des Denkers, nicht nur eine blutlose Denk-Biographie formt, zeigt, wie sich Aufklärungsskepsis im Alltag eines Intellektuellen und Hochschullehrers in der alten Bundesrepublik konkretisierte. 

Aus Zills reichem Fundus dazu nur ein Beispiel, Blumenbergs Position zur „Vergangenheitsbewältigung“. Er hätte als in seiner Heimatstadt Lübeck vielfach gedemütigter „Halbjude“, dessen Lieblingstante im KZ ermordet wurde, der in den letzten Kriegswochen untertauchen mußte, um ihr Schicksal nicht teilen zu müssen, gute Karten gehabt, um auf diesem Felde glaubwürdiger aufzutrumpfen als die bis zum 8. Mai 1945 endsieggläubige Hitlerjugend-Charge Jürgen Habermas. Der sich von NS-Illusionen nur verabschiedete, um sie gegen das Hirngespinst von der herrschaftsfreien Weltgesellschaft einzutauschen, und dabei gegen politisch Urteilsfähige, die genug „aus der Geschichte gelernt“ haben, um sich gegen „Große Transformationen“ jeder Couleur zu sperren, stets die „Auschwitz-Keule“ schwingend. 

In einem fiktiven Brief glossiert Blumenberg solchen Hypermoralismus mit dem Hinweis auf Habermas’ Doktorvater, den Bonner Philosophen Erich Rothacker, einen frühen NS-Sympathisanten: „Sie haben bei E. R. promoviert, sich akademisch legitimieren lassen. Haben Sie jemals danach gefragt, was er zwischen 1933 und 1945 alles getan hat? Ich war mit E. R. befreundet. Ich mochte ihn. Ich habe gefragt, was er zwischen 1933 und 1945 alles getan hat. Ich bin trotzdem bis zu seinem Tode mit ihm befreundet geblieben. Ich wollte nicht sein, was ich nicht zu sein brauchte: das Weltgericht.“ Stattdessen plädierte er für ein moderates „kollektives Beschweigen“ (Hermann Lübbe). Weil der auf sein Zentralgestirn Goethe fixierte Humanist, für den über die Grenzen des Machbaren aufklärende Bildung „ganz wesentlich die Unverfügbarkeit des Menschen garantiert“, wußte, daß die Alternative unentwegter „Aufarbeitung“ sich nicht auf „1933 bis 1945“ beschränken, sondern auf die gesamte historisch gewachsene kulturelle Substanz Deutschlands und Europas übergreifen würde, wenn, wie es gegenwärtig geschieht, die Anker des Herkömmlichen gelichtet werden, um abermals Kurs auf einen Eisberg namens Utopia zu nehmen.

Jürgen Goldstein: Hans Blumenberg. Ein philosophisches Portrait. Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2020, gebunden, 624 Seiten, 34 Euro

Rüdiger Zill: Der absolute Leser. Hans Blumenberg. Eine intellektuelle Biographie. Suhrkamp Verlag, Berlin 2020, gebunden, 816 Seiten, Abbildungen, 38 Euro