© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 43/20 / 16. Oktober 2020

Das Ringen um die volle Gewalt
Jochen Lober analysiert den Weg zum Grundgesetz unter den Maßgaben der Alliierten und der auf weitgehende Souveränität pochenden politischen Klasse in Deutschland
Bruno Bandulet

Als der Parlamentarische Rat am 8. Mai 1949, genau vier Jahre nach der Kapitulation der Wehrmacht, das Grundgesetz gegen die Stimmen der CSU verabschiedete, waren sich alle einig, daß dies ein Provisorium sei und eine gesamtdeutsche Verfassung nicht ersetzen könne. Carlo Schmid, der maßgebende Verhandlungsführer der SPD, erklärte vor dem Plenum unwidersprochen, daß er dem Grundgesetz „nur schweren Herzens“ zustimme. Und im nie gestrichenen Artikel 146 ist immer noch zu lesen, daß das Grundgesetz an dem Tag seine Gültigkeit verlieren werde, „an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist“.

Die Wiedervereinigung vor 30 Jahren bot die Chance, sie wurde verpaßt. Grund genug, noch einmal zu beleuchten, wie das Grundgesetz zustande kam. Jochen Lober, Rechtsanwalt und wiederholt Vertreter von Verfassungsbeschwerden in Karlsruhe, untersucht die internationalen Rahmenbedingungen nach Ausbruch des Kalten Krieges 1948, die Konferenz der Westmächte vom Juni 1948, die destruktive Rolle Frankreichs ebenso wie die konstruktive der USA sowie die „Frankfurter Dokumente“ vom Juli 1948, in denen die Westmächte ihre Vorgaben für eine deutsche Verfassung und das künftige Besatzungsstatut formulierten. Der Autor zieht das Fazit, daß das Grundgesetz keine „einseitig oktroyierte Verfassung“, sondern ein zwischen beiden Seiten vereinbartes Dokument gewesen sei – eine Verfassung, die allerdings vom Besatzungsstatut überlagert wurde. Denn die Besatzungsbehörden behielten sich (bis 1955) das Recht vor, die „volle Gewalt“ in Deutschland wieder zu übernehmen. Auch Carlo Schmid sah im Besatzungsstatut die „eigentliche Verfassung der Bundesrepublik“. 

Der historische Rückblick beansprucht den größeren Teil des schmalen Bandes und ermöglicht nebenbei Vergleiche der heutigen mit der damaligen politischen Klasse. Bemerkenswert, mit welchem Selbstbewußtsein die Vertreter einer besiegten Nation den alliierten Siegermächten gegenübertraten – nicht zuletzt Konrad Adenauer, dessen Niveau nach Meinung des Verfassers kein späterer Kanzler jemals wieder erreicht hat. 

Im letzten, besonders lesenswerten und streckenweise brisanten Abschnitt des Buches befaßt sich Lober mit der Verfassungswirklichkeit im vereinten Deutschland und mit dem ideologischen Hintergrund der faktisch bestehenden Souveränitätsmängel. Die Westbindung als „Teil unserer Staatsräson“ (Helmut Kohl) sei zu einer Art Religionsersatz geworden. Mit dem Maastrichter Vertrag habe der Begriff „Europa“ begonnen, sich in eine beinahe metaphysische Dimension zu steigern, die mit rationaler Argumentation nichts mehr zu tun habe. Der fortschreitende Verlust der Staatlichkeit, der Kultur und des Volkes, so Lober, werde im Bundestag nicht einmal mehr diskutiert. 

Dem Grundgesetz selbst lastet der Autor solche Defizite nicht an – es ist schließlich schon 64mal geändert worden. In der Einbindung Deutschlands in Nato, EU und den Zwei-plus-Vier-Vertrag 1990 sieht er die „Zubilligung eines Status von formaler Gleichrangigkeit ohne politische Potenz“. Und er zitiert Wilhelm Grewe, einen der führenden außenpolitischen Köpfe der jungen Bundesrepublik, mit dem Satz, spätestens mit dem Atomwaffensperrvertrag von 1969 sei die mit der Wiederbewaffnung errungene Gleichberechtigung der Bundesrepublik wieder verlorengegangen. Nicht viel anders sah es Franz Josef Strauß.

Mit seinen vielen, oft langen Fußnoten fordert Lobers Studie dem Leser einiges ab. Aber gerade in den Anmerkungen finden sich echte Perlen. Zum Beispiel sei in der deutschen Staatsrechtslehre allgemein akzeptiert, daß das Deutsche Reich 1945 als Völkerrechtssubjekt nicht untergegangen sei – nur wiesen diesbezügliche Theorien so gut wie keinen Realitätsbezug auf. Zu wünschen wäre, daß dieser kritische, scharfsinnige und einem größeren Publikum noch wenig bekannte Jurist sein Thema später einmal erweitert und eine umfassende Souveränitätsgeschichte Deutschlands von 1945 bis heute vorlegt. 






Dr. Bruno Bandulet ist Herausgeber des „Deutschland-Briefs“ (erscheint in „eigentümlich frei“). Er ist Autor des Buches „Beuteland. Die systematische Plünderung Deutschlands seit 1945“ (Kopp Verlag 2016).

Jochen Lober:  Beschränkt souverän. Die Gründung der Bundesrepublik Deutschland als „Weststaat“ – alliierter Auftrag und deutsche Ausführung. Manuscriptum Verlag, Lüdinghausen 2020, broschiert,144 Seiten, 23 Euro