© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 43/20 / 16. Oktober 2020

Wurzeln des Widerstands
Die Historikerin Maren Gottschalk hat den Nachlaß der Familie Scholl ausgeschöpft und analysiert in der Biographie von Sophie den Hintergrund ihres Handelns
Herbert Ammon

In einem Dossier der Bundeszentrale für politische Bildung zu „Sophie Scholl und die ‘Weiße Rose’“ heißt es: „Sie ist ein Symbol für beispielhafte Zivilcourage und Widerstand gegen die Hitler-Diktatur – nicht nur im politischen, sondern auch im alltäglichen Leben.“ Beispielhaft steht der Satz für die Banalisierung des Opfertodes junger Menschen unter dem zeitlich immer weiter entrückten NS-Regime zu Gegenwartszwecken.

Die vorliegende Biographie zielt darauf, „hinter dem bewunderten Heldinnenbild (...) den Menschen Sophie Scholl“ zu erkennen. „In Sophie Scholls Leben gab es viel Farbe, die wir heute rasch ausblenden, weil wir die NS-Zeit fast nur aus Schwarzweiß-Aufnahmen kennen.“ Maren Gottschalk hat bereits vor acht Jahren eine Lebensgeschichte von Sophie Scholl vorgelegt. Für ihr jetziges Buch hat sie vor allem den im Archiv des Münchner Instituts für Zeitgeschichte (IfZ) aufbewahrten Nachlaß der Familie Scholl ausgeschöpft.

In der Schollschen Familiengeschichte wird die Lebenswelt der schwäbischen Provinz vor und nach dem Ersten Weltkrieg anschaulich. Die Mutter, Tochter eines Freimaurers und einer frommen, aber frohen Protestantin, lernte als Diakonisse im Lazarett zu Ludwigsburg den Sanitäter Robert Scholl kennen. Scholl, einer kinderreichen Kleinbauernfamilie entstammend, in religiösen Dingen indifferent, war pazifistisch eingestellt, hielt indes die konstitutionelle Monarchie für die geeignetste Staatsform. Im Kriegsjahr 1916 trat die 35jährige Lina Müller aus dem Diakonissenverband aus und heiratete den zehn Jahre jüngeren Scholl, immerhin bereits Vater eines unehelichen Sohnes. Mit Fleiß und Ehrgeiz gelang Scholl der Aufstieg ins mittlere Bürgertum, zuletzt als Inhaber eines Steuerberaterbüros in Ulm.

Erhellend sind Details zur Etablierung der NS-Diktatur. Die frühe HJ-Begeisterung von Inge, Hans und Sophie deutet die Autorin zu Recht auch als Abgrenzung von dem dominanten Vater. Die Widerstandshaltung der Scholl-Kinder wurzelte in von Eigenwillen geprägter Psychologie, bei Hans im Festhalten an den bündischen Riten der Deutschen Jugenschaft dj.1.11, bei Sophie in musisch-künstlerischer Sensibilität und Begabung. Als zwei Schulfreundinnen wegen ihrer jüdischen Herkunft keine „Jungmädel“ werden durften, gründete Sophie einen – unverzüglich untersagten – „Klub“.

Als biographischer Bruchpunkt gilt die Verhaftung der Geschwister Inge, Werner und Hans wegen „bündischer Umtriebe“ Ende 1937. Während Hans’ Haftstrafe unter eine Amnestie fiel, kam Inges Freund Ernst Reden wegen Verstoßes gegen den Paragraphen 175 ins Gefängnis. Mit einschränkendem Hinweis auf Hans Scholls unstete Liebschaften folgt die Autorin der zuvor von Robert Zoske (JF 8/18) vertretenen These von der Homo- bzw. Bisexualität des Namensgebers der „Weißen Rose“. Hinsichtlich der Widerständigkeit der Scholls fehlt der Hinweis auf ihre Beziehungen zu Richard Scheringer.

Breiten Raum nimmt die Darstellung der Liebesbeziehung zu Fritz Hartnagel ein. Im Unterschied zu dem jungen Offizier Hartnagel – und zu ihrem Bruder Hans – ließ Sophie von Anbeginn an der Ablehnung des Krieges keinen Zweifel aufkommen. Was die beiden in ihrer von Wirrungen begleiteten Liebe verband, war auch eine in Gebeten gelebte Frömmigkeit.

Damit trifft das Buch den religiösen Kern des ab Frühjahr 1942 um Hans Scholl und Alexander Schmorell zentrierten Widerstandskreises. Einen Akzent setzt es hinsichtlich der Rolle Otl Aichers, des späteren Ehemanns von Inge Scholl. Der von der katholischen Jugendbewegung geprägte Aicher lenkte den Blick der Geschwister auf die Literatur des französischen Renouveau catholique. Im Sommer 1941 vermittelte er Hans Scholls ersten Besuch bei Carl Muth, dem Herausgeber der reformkatholischen Zeitschrift Hochland. Über Muth und Theodor Haecker gelangten Hans und Sophie in den Münchner Kreis der „inneren Emigration“, verknüpft mit Namen wie Werner Bergengruen und Sigismund von Radecki. Die Atmosphäre des Gewaltregimes wird daran spürbar, daß ein mit Bergengruen befreundeter Journalist aus Angst ein ihm zugetragenes Flugblatt der „Weißen Rose“ bei der Gestapo ablieferte.

Nicht nur in der Beschreibung des Novemberpogroms 1938 in Ulm enthält das Buch eindringliche Passagen. Leider setzt sich die Autorin, promovierte Mediävistin, zuweilen in journalistischem Stil über die historische Komplexität des Geschehens im 20. Jahrhundert hinweg: Es waren nicht „die Vertreter der französischen, englischen und italienischen Regierung“, die am 30. September 1938 mit Hitler das Münchner Abkommen schlossen, sondern die demokratischen Regierungs-chefs Daladier und Chamberlain sowie der Diktator Mussolini.

Maren Gottschalk: Wie schwer ein Menschenleben wiegt. Sophie Scholl. Ene Biographie. Verlag, C.H. Beck, gebunden, 347 Seiten,  Abbildungen, 24 Euro