© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 43/20 / 16. Oktober 2020

Redefelder liegen brach
Ein bemerkenswertes, aber nicht durchweg praxisnahes Plädoyer des Berliner Sprachwissenschaftlers Jürgen Trabant für eine Notwendigkeit der Sprachbewahrung
Thomas Paulwitz

Sprache ist mehr als nur „Kommunikation“. Jürgen Trabant bemängelt, daß das Bewußtsein dafür schwindet, welche grundlegende kulturelle Aufgabe der Sprache an sich zukommt. Der Berliner Sprachwissenschaftler ist mit diesem Standpunkt eine Ausnahmeerscheinung seiner Zunft, die allzusehr von der Idee des Dekonstruktivismus beherrscht ist. Dieser „gelehrten Herzlosigkeit“ folgt Trabant nicht. Die Sprachen, nicht nur die deutsche, liegen ihm am Herzen. Derzeit lehrt Trabant als Professor an der Bremer Jacobs-Universität zur Europäischen Vielsprachigkeit. In seinem neuen Buch „Sprachdämmerung“ prangert er Fehlentwicklungen an.

Der Titel seines Werkes ist eine Anspielung auf Ragnarök, die Götterdämmerung, den Untergang der Götter im Weltenbrand, dem die Errichtung einer neuen Welt folgt. Der einsetzenden Dämmerung setzt Trabant das Wort als das „Licht der Menschen“ entgegen, das er mit seinem Buch hüten wolle. Auch hier spielt er unverhohlen auf das Religiöse an, denn das „Licht der Menschen“ ist nach dem Johannes-Evangelium das Göttliche, das in Jesus Christus offenbart wurde: „Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort.“ Trabant wählt indes die mit einer anderen Präposition ungenau übersetzte Fassung: „Am (sic!) Anfang war das Wort.“

Solchermaßen gleichsam göttlich zugerüstet beginnt Trabant „eine Verteidigung“, wie er sein Buch im Untertitel programmatisch bezeichnet: „Sprache ist ein tönendes Licht, das sich über die Welt ergießt, eine Kostbarkeit, die uns anvertraut ist und für die wir Sorge tragen müssen.“ Trabant teilt die Auffassung Wilhelm von Humboldts, daß jede Sprache eine andere, besondere Weise bietet, die Welt zu erfassen. Die deutsche Sprache sieht er dabei wie in eine Familie eingebettet: das Deutsche als Muttersprache, das Globalesische als neue Vatersprache, das Französische als Brudersprache und die anderen Sprachen Europas als Geschwister. Dieser Familienaufstellung folgt auch sein Buch in den einzelnen Abschnitten.

In dieser Familie gibt es freilich Probleme: Die deutsche Sprache sei so „in der Rappuse“ wie im 17. Jahrhundert, als nach dem Dreißigjährigen Krieg nicht nur das Land, sondern mit ihm auch die Sprache darniederlag. Die Hinwendung der Deutschen zum amerikanischen Englisch oder Globalesischen sei Ausdruck der Sehnsucht nach einer Vatersprache als Gegenstück zur Muttersprache. Anders als die Muttersprache gemahne diese Vatersprache nicht „ständig an die Schuld“. „Der starke Vater sagt, wo’s langgeht“: Feministinnen dürften bei diesem Rollenbild aufstöhnen. Doch wer nun eine Kritik der Gendersprache erwartet, wird enttäuscht. Sonderbarerweise spielt sie in Trabants „Sprachdämmerung“ keine Rolle, obwohl das Genderdeutsch in der gegenwärtigen Debatte am stärksten polarisiert. Auch „Kanak Sprak“ und Anglizismen beunruhigen Trabant „nur mäßig“. Für ihn sind es nur oberflächliche Erscheinungen.

Dennoch gibt es natürlich Entwicklungen, die Trabant Sorge bereiten. Dazu gehört vor allem die Verdrängung der deutschen Sprache aus der Wissenschaft, aber auch aus Wirtschaft und Kultur: „Mehr und mehr hohe, prestigereiche Redefelder werden nicht mehr auf deutsch sprachlich gefaßt.“ Dadurch sinke das Ansehen der Volkssprache, sie werde nicht mehr ausgebaut: „Bestimmte Sachen kann man irgendwann einfach nicht mehr auf deutsch sagen.“ Eines Tages werde eine „anglophone Aristokratie“ aus der Sprachnation abdriften, während eine Einwandererschicht mit verschiedenen Sprachen gar nicht erst in diese Sprachnation eintrete.

Einen Ausweg sieht Trabant in der Hinwendung zum Französischen als „Brudersprache“. Anders als bei der Vatersprache sei die Hierarchie hier anders: nicht bevormundend, sondern gleichberechtigt. Gemeinsam könne man sich der Vorherrschaft des amerikanischen Englisch erwehren. Sein Vorschlag erscheint träumerisch-idealistisch, um nicht zu sagen weltfremd. Trabant vernachlässigt bewußt, daß hinter der Hinwendung zum Globalenglisch vor allem machtpolitische und ökonomische Interessen stehen, die Französisch in keiner Weise befriedigen kann.

Mehrsprachigkeit, die keinen materiellen Nutzen verspricht, wird immer nur Sache einer bildungsbürgerlichen Elite bleiben. Dieser Stand ist freilich eher im Schrumpfen begriffen. Daher dürfte Trabants Ruf nach „tapferer Mehrsprachigkeit“ weitgehend verhallen. Das scheint ihm auch bewußt zu sein, wenn er abschließend ernüchtert feststellt: „Gegen die Aufgabe des Deutschen als Kultursprache scheint kein Kraut gewachsen zu sein.“ Und doch wünscht sich der Leser, es möge anders kommen, und sucht nach mehr Licht.

Jürgen Trabant: Sprachdämmerung. Eine Verteidigung. Verlag C.H. Beck, München 2020, gebunden, 240 Seiten, 29,95 Euro