© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 43/20 / 16. Oktober 2020

Wo bleibt die Leitkultur?
Hamed-Abdel-Samad sieht nur in einem gesunden Bekenntnis zur Nation eine Chance, daß Einwanderer sich in Deutschland integrieren
Fabian Schmidt-Ahmad

Seit einigen Jahren hat sich Hamed Abdel-Samad als scharfer Kritiker multikulturellen Ethno-Kitsches wie auch eines autoritären Islam profiliert. Bücher wie „Integration. Ein Protokoll des Scheiterns“ (JF 19/18) zeigen schonungslos das Versagen linker Utopien und deren Blindheit gegenüber dem Erstarken des Islam, dem Abdel-Samad – gleichwohl gläubiger Moslem – ein Gewaltproblem attestiert. Nun hat der Politikwissenschaftler mit „Aus Liebe zu Deutschland. Ein Warnruf“ ein Buch vorgelegt, das Lösungsansätze der Integrationspolitik aufzeigen will. 

Wer integrieren will, muß zunächst zeigen, worin sich ein Einwanderer denn einfügen soll. Abdel-Samad hat daher vor allem ein Buch über Deutschland geschrieben. Es ist zugleich ein persönliches Buch geworden, da der 1972 in der Nähe von Kairo geborene und 1995 nach Deutschland eingewanderte Abdel-Samad auch seinen eigenen Entwicklungsgang mit einfließen läßt. Ein Gang, der keineswegs geradlinig zum deutschen Erfolgsschriftsteller führt, sondern auch leicht der eines Gescheiterten hätte werden können.

Abdel-Samads Erzählung, wie ihn nach anfänglicher Faszination aus der Ferne und – in Deutschland angekommen – zunächst Hoffnung erfüllte, die dann aber einer Enttäuschung und dem Gefühl von Überforderung wich, sie steht gleichsam stellvertretend für ein mittlerweile millionenfaches Schicksal von Menschen, bei denen die Integration mißglückte, die in eine Parallelwelt abrutschten. Durch seine eigene Entwicklung zeigt Abdel-Samad den Ausweg – in der Auseinandersetzung mit der deutschen Nation.

„Auf Angst und Hadern folgte langsam das Verstehen, das Bekenntnis zu Deutschland, die Identifikation mit seinen Wunden wie mit seinen Erfolgen, mit seiner Geschichte, seinen Stärken und Schwächen und mit seinen Werten“ , heißt es bei ihm. Hier liegt die Stärke des Buchs, wenn Abdel-Samad dem Nationalcharakter der Deutschen nachspürt, als Außenstehender ihre Eigentümlichkeiten erlebt und durchaus liebevoll Schrulliges beschreibt. Das auffälligste Merkmal ist natürlich die Haßliebe der Deutschen zu sich selbst.

„Ich habe lange gegrübelt, wo diese deutsche Identitätsneurose, dieses Mißtrauen gegen sich selbst, herkommen könnte.“ Der Nationalsozialismus scheidet für Abdel-Samad als zwar naheliegende, jedoch unzureichende Erklärung aus. Tatsächlich liege die Ursache tiefer. Abdel-Samad sieht sie in der Gründung des Heiligen Römischen Reiches, dessen Anspruch weit über den Möglichkeiten gelegen habe. „Das Alte Reich war der Anfang einer Fluchtkette, die die deutsche Identität bis heute bestimmt.“

Vor diesem Hintergrund ist dann für die Deutschen die Europäische Union „eine Art modernes Heiliges Römisches Reich“, dessen Scheitern nicht hinnehmbar sei. Man muß dieser und anderen Schlußfolgerungen Abdel-Samads nicht folgen, doch muß man anerkennen, daß hier jemand ernsthaft bemüht ist, das Wesen der Deutschen zu erfassen. Allein das hebt ihn weit über die Masse sonstiger Wissenschaftler, die zu solchen eigenständigen Überlegungen nicht fähig oder mutig genug sind.

Was ist nun Abdel-Samads Lösungsweg, die Integrationsprobleme in diesem Land erfolgreich bewältigen zu können? Zunächst ist es Ehrlichkeit. „Integration kann nicht gelingen, wenn wir uns einen kritischen Blick verbieten oder gegen Kritiker reflexartig eine Keule schwingen.“ In diesem Freiraum hofft Abdel-Samad auf etwas, das er mit Bassam Tibis Worten als „Leitkultur“ bezeichnet. Dazu bedarf es jedoch Ideen. „Das Ziel der meisten Parteien scheint aktuell nicht, Deutschland mutig neu zu gestalten, sondern die AfD in Schach zu halten.“ 

Nun, „Deutschland mutig neu zu gestalten“, das ist durchaus Anliegen von nicht wenigen Politikern, allen voran Bundeskanzlerin Angela Merkel. Was Abdel-Samad jedoch meint, sind Ideen, die aus der Erkenntnis des deutschen Nationalcharakters fließen, was eben nur in jenem Freiraum geschehen kann. Diesen Freiraum hat Abdel-Samad durch seine zahlreichen Reisen im deutschen Kulturbereich buchstäblich erfahren. So kann er für sich reklamieren, diesen Charakter erfaßt zu haben: „Überall sah ich die Unterschiede zwischen den Regionen, doch immer sah ich einen roten Faden, der sie verbindet: eine gemeinsame kulturelle Identität auch jenseits der Sprache, eine bestimmte Mentalität und eine Lebensweise, die auf ähnlichen Überzeugungen fußt.“ Erst wer dieses erfaßt hat, kann sich auch innerlich hiermit verbinden. „Das Bekenntnis zu Deutschland bedeutet für mich nicht nur, einen deutschen Paß zu besitzen“, so Abdel-Samad. „Es bedeutet vielmehr, daß ich die Werte dieses Landes achte und verteidige.“ 

Das geht natürlich nur, wenn da etwas ist, wofür man einstehen kann. Es sind Worte, die nicht genug wiederholt werden können und das ganze Elend aufzeigen, nicht nur in der Integrationsfrage, sondern in jeder anderen deutschen Schicksalsfrage: „Ein Land, das sich seiner Identität und Werte nicht sicher ist, kann weder dem eigenen Volk ein stabiles Selbstwertgefühl geben, noch kann es Einwanderern eine attraktive Identität anbieten oder eine selbstbewußte Rolle in der Staatengemeinschaft übernehmen.“  

Hamed Abdel-Samad: Aus Liebe zu Deutschland. Ein Warnruf. dtv Verlagsgesellschaft, München 2020, gebunden, 224 Seiten, 20 Euro