© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 44/20 / 23. Oktober 2020

Neue Dimension des Abscheulichen
Kindesmißbrauch: Erste Urteile im Tatkomplex von Bergisch-Gladbach geben Einblicke ins pädokriminelle Milieu
Philipp Meyer

Dreißigtausend. So viele Verdächtige gehören dem nordrhein-westfälischen Justizminister Peter Biesenbach (CDU) zufolge zum Umfeld des Pädophilennetzwerks von Bergisch-Gladbach. Die Bedeutung dieser erstmals im Juni dieses Jahres genannten Zahl ist monströs, die Anzahl an Opfern, zu der sie führen wird, erschreckend. Die Täter werden in jedem Bundesland vermutet, aber auch im – nicht nur – europäischen Ausland. Seitdem der pädokriminelle Ring im Oktober 2019 durch die Festnahme des 43jährigen Jörg L. aufgedeckt wurde, konnten allein in Deutschland mehr als hundert Tatverdächtige identifiziert werden. 

Das Tätermilieu war eng vernetzt. Es gab mehrere Chatgruppen mit teilweise über 1.800 Mitgliedern. Sexueller Mißbrauch ist längst in den sozialen Medien angekommen. Das Darknet spielt bei der Organisation der Pädokriminalität eine entscheidende Rolle. Über diese, vom öffentlich zugänglichen Internet abgeschotteten Netzwerke können sich Gleichgesinnte über längere Zeit ein eigenes Reich der Abgründigkeit schaffen. Zugang erhält man über einen sogenannten Tor-Browser, entwickelt ursprünglich zur digitalen Unterstützung von oppositionellen Bewegungen in Diktaturen. 

Das Darknet hat jedoch in Teilen längst ein Eigenleben entwickelt und sich zu einer Angebotsplattform für Drogenhändler, Hehler, Auftragsmörder – und eben Kinderschänder gewandelt. Es gibt dort für alles einen Markt, man muß ihn nur lange genug suchen. Für die Sicherheitsbehörden gleicht das Aufspüren dieser pädokriminellen Umschlagplätze der Suche nach der sprichwörtlichen Nadel im gigantischen Daten-Heuhaufen.    

Aggression aufgebaut, Hemmschwelle überwunden

Im Fall von Bergisch-Gladbach wurden unzählige Mißbrauchstaten zur Schau gestellt, kommentiert und unschlüssige Konsumenten zur Erstellung von neuem Bildmaterial überredet oder bedrängt. So wurden Hemmschwellen schnell überwunden und Aggressionen aufgebaut. Bei einem Großteil der bisher identifizierten Opfer handelt es sich um die jeweils eigenen Kinder der Täter oder deren enge Verwandte. Regelmäßig verabredete man sich zu gegenseitigen Besuchen mit der Absicht, die Kinder des jeweils anderen zu mißbrauchen. Auch Ratschläge zum Vertuschen der Verbrechen oder wie man die Minderjährigen durch Verabreichung von Beruhigungsmittel gefügig machen könne wurden ausgetauscht.   

Insgesamt konnten im Zuge der Ermittlungen über 3.300 Datenträger mit einem Datenmaterial in der Größe von 85 Terabyte sichergestellt werden. Es handelt sich dabei um Bilder, Videos und Chatprotokolle, die schweren Mißbrauch von Jugendlichen und Kindern bis hin zu Säuglingen zeigen. Würde man die Datenmenge auf Papier drucken, könnte man damit einen Stapel von der Erde bis zum Mond bauen – und zwar fünfmal. Auch erfahrene Ermittler zeigen sich von dem Ausmaß des Falls überrascht. Mit einem pädophilen Zusammenschluß in einer solchen Größe hatte auf Behördenseite niemand gerechnet. Wollte niemand rechnen. Mehr als 200 Beamte waren zeitweise erforderlich, um das kinderpornographische Material auszuwerten. Biesenbach spricht von einer „neuen Dimension des Tatgeschehens“, welche „zutiefst verstörend“ sei. 

Seit dem Frühjahr ist daher eine Prozeßlawine gegen das Täternetzwerk in Gang gekommen. Zum Schutz der minderjährigen Opfer werden die meisten Verhandlungen unter Ausschluß der Öffentlichkeit geführt. Doch die bisher gefällten Urteile sprechen eine klare Sprache. Im Mai wurde ein 27jähriger vom Landgericht Kleve zu zehn Jahren Haft mit anschließender Unterbringung in einer psychiatrischen Einrichtung verurteilt. Der Mann hatte gestanden, in über 30 Fällen vier Kinder im Alter zwischen einem und fünf Jahren mißbraucht zu haben. Zwei Männer aus Krefeld und Viersen im Alter von 39 Jahren erhielten wegen schweren Kindesmißbrauchs eine dreizehneinhalb beziehungsweise vierzehneinhalbjährige Freiheitsstrafe. Sie waren in über hundert Fällen angeklagt. 

Auch der Prozeß gegen Jörg L., eine der Hauptfiguren in dem Komplex, kam Ende September zum Abschluß. L. wurde zu einer zwölfjährigen Haftstrafe mit anschließender Sicherungsverwahrung verurteilt. Das Landgericht Köln sah es als erwiesen an, daß der gelernte Koch und Hotelfachmann seine damals einjährige Tochter in Abwesenheit der Mutter regelmäßig mißbrauchte und diese Taten auf Video aufnahm. Zudem soll er einem weiteren Mann das Mädchen zur Verfügung gestellt haben.

Zahl der Verdächtigen    nach unten korrigiert

In einem anderen prominentem Mißbrauchsfall, der jedoch nicht im Zusammenhang mit Bergisch-Gladbach steht, wurde nun ebenfalls Anklage erhoben. Über ein Jahr sichtete die Staatsanwaltschaft Düsseldorf Beweismittel gegen den ehemaligen Fußballprofi Christoph Metzelder, um nun von einem hinreichenden Tatverdacht auszugehen. Dem früheren Nationalspieler wird der Besitz von 297 kinderpornographischen Dateien auf einem Mobiltelefon vorgeworfen, außerdem die Weitergabe von 29 Bildern an drei Frauen. 

Eine dieser Frauen, die im Sommer 2019 eine Beziehung mit Metzelder geführt hatte, soll diese Bilder an einen befreundeten Bild-Reporter weitergegeben haben, der daraufhin die Polizei kontaktierte. Um den Fall war es einige Monate still geworden, da Metzelders Verteidigung konsequent jede Berichterstattung unter Verweis auf eine Verletzung der Persönlichkeitsrechte und mögliche Vorverurteilung ihres Mandanten abmahnte. Doch durch die Anklagerhebung wurde der Fall des einstigen Fußballidols wieder Gegenstand des öffentlichen Interesses, und Metzelder scheiterte vor dem Verwaltungsgericht Düsseldorf mit dem Erwirken einer weiteren Untersagungsverfügung.       

Wie weitreichend der Mißbrauchskomplex von Bergisch-Gladbach tatsächlich ist, ist derweil noch offen. Zumindest die Zahl der Verdächtigen hat sich relativiert. In jüngeren Äußerungen sprechen Behörden nicht mehr von 30.000 konkreten Tatverdächtigen, sondern lediglich von so vielen Datenspuren wie IP-Adressen. Manche Täter könnten verschiedene Adressen genutzt oder von unterschiedlichen Geräten aus agiert haben, was die Anzahl der Akteure deutlich reduzieren würde. Unabhängig davon steht „Bergisch-Gladbach“ jedoch für den bisher größten Zusammenschluß von Pädokriminellen in Deutschland. Die Ermittlungen werden wahrscheinlich noch über Jahre andauern und möglicherweise weitere Überraschungen bringen. Bis jetzt konnten über 50 Kinder aus den Fängen des Milieus befreit werden. 

Unterdessen berichteten jüngst Ermittler des bayerischen Landeskriminalamts, daß immer mehr Kinder und Jugendliche ihrerseits wegen des Verbreitens von Kinderpornographie ins Visier der Strafverfolger geraten. So stieg 2019 die Zahl der Tatverdächtigen unter 21 Jahren deutschlandweit um rund 125 Prozent auf 7.584. Im Jahr zuvor hatte man noch 3.316 registriert.