© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 44/20 / 23. Oktober 2020

Zeitschriftenkritik: Cato
Streitgespräch zur Bildungsmisere
Werner Olles

Wer erinnert sich noch an das im Februar 1965 vom Sender Freies Berlin ausgestrahlte Streitgespräch zwischen dem Soziologen und Philosophen der Frankfurter Schule Theodor W. Adorno und dem konservativen Soziologen und Philosophen Arnold Gehlen über die Frage „Ist die Soziologie eine Wissenschaft vom Menschen“? Die hochinteressante und ebenso respektvoll wie zivilisiert geführte Debatte ist im Netz auf Youtube abrufbar. Zehn Jahre später diskutierten im Hessischen Rundfunk Gerd-Klaus Kaltenbrunner und der linke Sozialdemokrat Oskar Negt über Gesellschaftspolitik, und im Juli 1989 debattierte der SPD-Vordenker Peter Glotz mit dem Republikaner-Vorsitzenden Franz Schönhuber über die Themen „Nation und Nationalismus“.

Daß Rechts- und Linksintellektuelle durchaus sachlich miteinander streiten können, zeigt auch die aktuelle Ausgabe des Cato-Magazins (Nr. 6/2020). Der Historiker und JF-Autor Karlheinz Weißmann interviewt darin den ehemaligen Kultusminister von Mecklenburg-Vorpommern Mathias Brodkorb (SPD), der gemeinsam mit der Pädagogin Katja Koch die Streitschrift „Der Abiturbetrug“ veröffentlichte. Das Buch befaßt sich kritisch mit den katastrophalen Defiziten unserer Bildungspolitik, ein guter Anlaß für eine lebhafte Debatte, denn Weißmann war bis 2020 Studienrat für evangelische Religion und Geschichte. Beide beklagen die rat- und konzeptlose Bildungspolitik, die „gravierenden Auswirkungen der Mißstände auf den Zustand unserer Gesellschaft“ und „die Vorspiegelungen eines Niveaus, das nicht mehr existiert“ (Brodkorb), während Weißmann von einem „stattfindenden Betrug“ spricht, der „einen Betrüger voraussetzt“. So machen in Hamburg 55 Prozent der Schüler das Abitur, in Bayern „nur“ 32, doch schneidet Hamburg bei den Schulleistungen meist miserabel ab, und Bayern und Sachsen stehen an der Spitze. Weißmanns Folgerung, daß Brodkorbs Partei, die SPD, den „Abiturbetrug“ aufrechterhält, will dieser nicht gelten lassen, das sei „Quark“. Sein Plädoyer für eine Volksabstimmung „(eine schiere Verzweiflungstat“) verrät jedoch einiges über das Versagen von Kultusministerkonferenzen. Mecklenburg-Vorpommern orientiere sich jetzt an Bayern und Sachsen. Brodkorb bricht aber auch eine Lanze für das DDR-Schulsystem, in dem etwa 20 Prozent der Schüler das Abitur erwarben und Österreichs Weg, wo die Matura sehr häufig mit einem Berufsabschluß kombiniert wird. Ein gutes Beispiel, wie rechts- und linksintellektuelles Denken sich zeitkritisch entfalten kann.

Weitere interessante Beiträge befassen sich mit einer Würdigung Donald Trumps als „schöpferischem Zerstörer“ (Siegfried Gerlich) sowie der „geistigen Pandemie der Gegenwart“ und Deutschlands Weg in die „Gnosisrepublik“ (Norbert Bolz). Artur Abramovych schreibt über das Judentum und eine ignorierte Judenfeindschaft („Leugnung der Andersartigkeit“) und Philip Plickert über „Das afrikanische Jahrhundert“.

Kontakt: Cato-Verlag, Fasanenstraße 4, 10623 Berlin. Das Einzelheft kostet 13,80 Euro, ein Jahresabo 72 Euro.

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