© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 44/20 / 23. Oktober 2020

Kaputt und kriminell
Kino: Der Film „Kajillionaire“ porträtiert eine dysfunktionale US-Familie
Dietmar Mehrens

Daß Zeiten moralischer Zerrüttung und mangelnder gesellschaftlicher Stabilität zu sexueller Verwirrung und Verirrung, zu einer „pathetischen Erotik“, führen können, beschrieb bereits Stefan Zweig im Kapitel „Wieder in der Welt“ seiner Autobiographie „Die Welt von Gestern“. So konsequent und eindeutig, wie Autorin und Regisseurin Miranda July diesen Zusammenhang in ihrer Gaunerkomödie „Kajillionaire“ (US-Slang für besonders Begüterte) vorführt, hat sich das aber unter Filmschaffenden bisher kaum jemand getraut.

In Deutschland würden sie sicher in der Hamburger Hafenstraße oder, falls Berlin ihre Heimatstadt wäre, in der Rigaer Straße ein Zuhause finden: Theresa (Debra Winger) und Robert (Richard Jenkins) sind nie richtig erwachsen geworden. Als Eltern der inzwischen 26jährigen Old Dolio (großartig: Evan Rachel Wood) sind sie ein Totalausfall. Der kuriose Name erinnert an einen obdachlosen Gewinner einer Lotterie, als die ihre Eltern das Leben auffassen. Da die Vereinigten Staaten mit Arbeitsverweigerern und Sozialbetrügern, die einen parasitären Lebensstil in den Rang neoorthodoxer Tugendhaftigkeit erhoben haben, etwas rabiater verfahren als etwa die Bundesrepublik Deutschland mit ihren besonders solide gewebten sozialen Hängematten, haben die drei prekären Existenzen ihre eigenen Strategien entwickelt, um über die Runden zu kommen. Die gelenkige Old Dolio betätigt sich als Langfinger in Postämtern, versucht Gutscheine in Geld umzuwandeln oder bettelt einfach um Mitleid. Ihre Eltern halten derweil den Vermieter des dringend renovierungsbedürftigen Büros, in dem die drei Obdach gefunden haben, mit leeren Versprechungen hin, sobald die Monatsmiete fällig wird.

Der Gewinn einer Flugreise kommt da wie gerufen: Durch die Unterschlagung eines Koffers möchte die fix und fertige Familie 1.575 Dollar von der Gepäckversicherung einstreichen. Der Flug wird tatsächlich zum Wendepunkt. Denn das trickreiche Trio lernt die aufgeschlossene Melanie (Gina Rodriguez) kennen. Aus dem Trio wird ein Quartett. Melanie sorgt allerdings auch dafür, daß Old Dolio endlich begreift, was für ein egomanisches, liebloses Elternpaar Theresa und Robert abgeben und wieviel die beiden ihrer Tochter schuldig geblieben sind. Old Dolios zunehmendes Bewußtsein für ihren leeren Liebestank macht sie empfänglich für die Verführungskünste der homosexuellen Melanie. Sie beschließt, ihre Eltern zu verlassen.

Abrechnung mit den Idealen der Achtundsechziger

Miranda Julys Geschichte handelt vom Alltag in Amerika, aber sie ist alles andere als alltäglich. Selten hat man im Kino eine so gnadenlose Abrechnung mit den falschen Idealen und der selbstzerstörerischen Depravationslust der Achtundsechziger gesehen. „Kajillionaire“ macht deutlich: Was in der Zeit, als Richard und Theresa jung waren, als freie Liebe und sexuelle Revolution ausgegeben wurde, war nichts weiter als ein hedonistischer Egotrip, den in allen Fällen, in denen die Rückkehr in die Bürgerlichkeitt mißlang, die Nachgeborenen auszubaden haben: Kinder wie Old Dolio.

Statt in einer heilen Familie aufzuwachsen, wurde das Mädchen von Rabeneltern zur Erfüllungsgehilfin ihrer unerfüllbaren Wohlstandsutopien gemacht. Die nämlich lassen sich für Menschen mit ihrem Wertekanon im real existierenden Amerika nur im Ansatz und nur durch ein Mindestmaß an krimineller Energie verwirklichen. 

Als würde die Ultrafeministin Judith Butler versuchen, einen Witz zu erzählen, wirkt jedoch das Bemühen der Filmemacherin, das verschrobene Ehepaar und dessen knapp am Kaspar-Hauser-Syndrom vorbeigeschrammte Tochter in einer Reihe von skurrilen Szenen komisch aussehen zu lassen. Die merkwürdige Ambivalenz zwischen versuchter Komik und fundierter Zeitkritik durchzieht Julys Milieustudie und läßt den Zuschauer am Ende reichlich ratlos zurück.

Kinostart ist am 22. Oktober