© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 45/20 / 30. Oktober 2020

Fluch ...
Elliot Neaman

Vor vier Jahren gelang Donald J. Trump ein spektakulärer Erfolg. Ein Privatmann, der nie zuvor ein politisches Amt innehatte, nie im Militär diente, ein Unternehmer mit einer langen Geschichte gescheiterter Unternehmen, ein bombastischer Reality-TV-Star, besiegte die favorisierten und erfahrenen Kandidaten zweier der mächtigsten politischen Dynastien Amerikas, um der 45. Präsident der Vereinigten Staaten zu werden.

Seine zentrale Erkenntnis, die 63 Millionen amerikanische Bürger motivierte, für ihn zu stimmen, war einfach und brillant: Die beiden wichtigsten politischen Parteien der USA hatten das amerikanische Volk im Stich gelassen, indem sie längst überholte Lösungen für alte, aber drängende Probleme anboten; von wachsenden Einkommensunterschieden zwischen Arm und Reich, über Handelsungleichgewichte, die die Produktionssektoren der alten industriellen Basis Amerikas ausgehöhlt hatten, bis hin zu anderen postindustriellen Problemen, die gegenwärtig alle Industrie-länder plagen.

Trump war frech, unpolitisch, unhöflich und unerbittlich böse zu seinen Gegnern. Er startete Verbalattacken gegen persönliche Feinde und die Eliten, die Amerika jahrelang regiert hatten. Er beschwor wilde Verschwörungstheorien über einen imaginären „tiefen Staat“ herauf, der seine Kandidatur und nach seiner Wahl auch seine Präsidentschaft untergraben hätte. Der cleverste Teil seines Betrugsspiels nach seinem Amtsantritt war dieser Satz: Wenn etwas schiefgelaufen sei, dann nur deshalb, weil das alte Establishment der Obama-Ära, die Bürokraten und der „Sumpf“ von Lobbyisten in Washington D.C. darauf aus sind, ihn zu sabotieren.

Hat diese Rhetorik funktioniert? Ja. Anstatt von der Mißachtung allgemein akzeptierter Normen überrascht oder etwa angewidert zu sein, waren seine Anhänger voller Begeisterung. Endlich ein Politiker, der die ungeschönte Wahrheit spricht! Trump sagte laut, was viele seiner Anhänger im Privaten dachten. Das Marketing sprach US-Amerikaner an, die sich durch die verwirrenden Brüche, die die Globalisierung und der technologische Wandel der letzten Jahrzehnte mit sich brachten, im Stich gelassen fühlten. Trump übersetzte nativistische, revanchistische Klagen in eine sowohl aggressive als auch hoffnungsvolle Sehnsucht nach Erneuerung alter amerikanischer Größe. Er versprach, eine imaginäre Vergangenheit wiederherzustellen, in der die weißen Amerikaner eine kulturelle und demographische Dominanz innehatten.

Die große Tragödie der Trump-Jahre besteht jedoch darin, daß es ihm eindrucksvoll mißlang, seine grundlegenden, wenngleich ziemlich platten Ansichten, in eine funktionierende politische Agenda umzusetzen. Ein weniger realitätsfremder Anführer hätte den glücklichen Sieg im Jahr 2016 in eine transformative und sehr populäre Präsidentschaft verwandeln können. Aber Trump hatte nie die Weitsicht oder die Fähigkeiten dazu. Ein Schlüsselbeispiel ist die Mauer an der Südgrenze, die nie wirklich gebaut wurde. Die Beziehungen zu China wurden feindseliger denn je, während der chinesische Präsident Xi Jinping keinerlei Anstalten machte, Chinas Streben nach globaler Führungsmacht auch nur irgendwie zu bremsen. 

Amerika geriet tief in einen Handelskrieg mit der Europäischen Union. Dem Iran wurde nicht Einhalt geboten, das Nordkorea-Problem nicht eingedämmt. Rußland stand es unter Putin frei, in regionalen Angelegenheiten vermehrt die Muskeln spielen zu lassen. Trump ließ seine kurdischen Verbündeten im Syrischen Bürgerkrieg auf grausame Weise im Stich und beschloß, alle amerikanischen Truppen aus Afghanistan abzuziehen – ein Sieg für die Taliban und den Islamischen Staat, der entgegen seinen Behauptungen immer noch eine sehr starke regionale Bedrohung darstellt.

Das „Friedensabkommen“ in Nahost ist nach wie vor weit von einer umfassenden Lösung des israelisch-palästinensischen Problems entfernt, trotz einer geringfügigen, aber vielversprechenden Öffnung zwischen Israel und den bereits „weichen“ Verbündeten, den Vereinigten Arabischen Emiraten und Bahrain. In innenpolitischen Fragen versprach Trump Milliarden von Dollar, um Amerikas kaputte Straßen, Brücken und Häfen wiederherzustellen. Das ist nie geschehen. Die vielgepriesene Kohleindustrie wurde nicht wiederbelebt; stattdessen gingen die Umsätze weiter zurück. Zudem verschwanden Millionen weiterer Arbeitsplätze in den leidgeprüften Teilen des Mittleren Westens, die Trumps Wahl 2016 erst ermöglicht hatten. Politiker, so heißt es, führen Wahlkämpfe mit Poesie, aber sie müssen in Prosa regieren. Trump hat nie aufgehört, Wahlkampf zu führen. Drei lange Jahre lang hatte er ganz einfach Glück. Die Arbeitsmarktzahlen blieben stark, und der Aktienmarkt schoß in die Höhe. Wirtschaftswissenschaftler haben immer wieder darauf hingewiesen, wie wenig das mit der Person im Weißen Haus zusammenhing. Aber Trump wurde, wie die meisten Präsidenten, für seinen Umgang mit der Wirtschaft mit Bonuspunkten belohnt.

Dann kam Covid. Jeder Präsident sieht sich irgendwann mit einer Krise konfrontiert, normalerweise mit einer ausländischen Krise wie einem Krieg oder einer Revolution irgendwo, für deren Lösung die amerikanische Macht gebraucht wird. Trump jedoch konnte den Corona-Virus nicht einfach unterwerfen oder die Öffentlichkeit davon überzeugen, daß die physische Bedrohung ihres Lebens nicht real war. Wenn Trump am 3. November verliert, was immer wahrscheinlicher erscheint, werden zukünftige Historiker als Hauptgrund seinen schlechten Umgang mit der Pandemie ausmachen.

Trump beleidigt und lügt am laufenden Band

Die amerikanischen Wähler mögen Veränderungen, aber vier Jahre dieser Art waren anstrengend und demoralisierend. Vor allem der steile Verlust an Unterstützung durch bildungsaffine, weiße Frauen aus den Vorstädten könnte die kommenden Präsidentschaftswahlen verändern. Trumps kriegerische Sprache spricht nunmal eine schrumpfende Minderheit weißer Arbeiterklasse-Männer an.

Der 74jährige startete seinen Präsidentschaftswahlkampf, indem er die Mexikaner als „Vergewaltiger und Mörder“ bezeichnete. Zu Beginn seiner Amtszeit kritisierte er wiederholt einen echten Kriegshelden, den verstorbenen Senator John McCain. Er forderte vier weibliche farbige Kongreßabgeordnete, von denen drei in den USA geboren wurden, auf, „in die völlig verdreckten und von Verbrechen verseuchten Orte zurückzukehren, aus denen sie kamen“. Bei einer Wahlkampfkundgebung wedelte er mit seinen Händen und machte sich über eine behinderte Person lustig. Er hat Frauen wiederholt als „Schweine“, „Hunde“ und „Pferdegesichter“ bezeichnet.

Kindern wird beigebracht, nicht zu lügen. Der Präsident hat laut Tatsachenprüfern und Zählungen über 20.000 Mal gelogen (23 Mal pro Tag ist sein derzeitiger Stand). Er hat sich und seine Familie auf öffentliche Kosten bereichert, indem er ausländische Führer und Lobbyisten ermutigte, in seinen Hotels zu übernachten. Das sind nur einige der zahlreichen Beispiele, die angeführt werden könnten. Sie alle weisen auf schwere und irreparable Charakterfehler hin.

Gleichzeitig hat Trump auf böswilligste Weise die Staatschefs von Kanada, Mexiko, Frankreich, Deutschland, Australien, Neuseeland und vieler anderer Demokratien angegriffen, während er sich mit Putin, Xi, Duterte, Bolsonaro und Kim Jong-un anfreundete. Man kann sich nur vorstellen, wie die Republikaner reagiert hätten, wenn Präsident Obama auch nur im entferntesten etwas ähnliches getan hätte.

Klar ist: Konservative aller Couleur werden in der kommenden Biden-Präsidentschaft viel zu beklagen haben. Steuern und Regulierungen dürften steigen. Bernie Sanders wird um die Ecke kommen und seinen Anteil einfordern, was Gerechtigkeitsgeschwafel und wirtschaftlichen Linkspopulismus mit sich bringen wird, der bei der Mehrheit der Amerikaner nicht beliebt ist. Biden weiß das und präsentiert sich in den letzten Tages seines Wahlkampfs als gemäßigt, was zu einem Politiker des Establishments, der fast ein halbes Jahrhundert im Kongreß gedient hat, ganz natürlich paßt. Wenn Biden genügend Arbeiter überzeugen kann, die 2016 in der Hoffnung, daß ein Messias all ihre Probleme lösen könnte, zu Trump geflohen sind, wird der derzeitige Amtsinhaber die Wahl verlieren. Der Ballast auf der Republik namens Trump ist ein gefährliches politisches Theater, das sich nur als Präsidentschaft tarnt. Eine Korrektur ist von allergrößter Dringlichkeit, nicht nur für die US-Amerikaner, sondern auch für das, was früher einmal die Freie Welt genannt wurde. Um die studentischen Radikalen der 1960er Jahre zu zitieren: „Die ganze Welt schaut zu.“






Prof. Dr. Elliot Neaman, geboren 1957, lehrt Europäische Geschichte an der University of San Francisco.