© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 45/20 / 30. Oktober 2020

Kein Anlaß zur Entwarnung
Terror: Nach dem Mord an einem Lehrer in Paris zeigt eine mutmaßlich ebenfalls islamistisch motivierte Bluttat in Dresden, daß auch in Deutschland die Gefährdungslage weiter anhält
Peter Möller

Es war ein grausiger Zufall: Wenige Tage nachdem ein Islamist in der Nähe der französischen Hauptstadt Paris den Lehrer Samuel Paty enthauptet hatte, verhaftete die Polizei in Dresden einen als Kriegsflüchtling geduldeten Syrer unter dem Verdacht, in der sächsischen Landeshauptstadt Anfang Oktober einen 55 Jahre alten Mann aus Krefeld erstochen und seinen Lebensgefährten schwer verletzt zu haben.

Die jeweiligen Reaktionen auf die zeitlich eng beieinander liegenden Bluttaten erzählen viel darüber, wie in den beiden Ländern mit dem islamistischen Terrorismus umgegangen wird. Während in Frankreich ein Aufschrei durch das Land ging und Präsident Macron eine bewegende Trauerrede hielt, in der er einen entschlossenen Kampf gegen den Islamismus ankündigte, waren die Reaktionen in Deutschland auf den Messermord in Dresden zunächst äußerst zurückhaltend, und für sich allein genommen hätte es der Mord von Dresden schwer gehabt, sich in der öffentlichen Wahrnehmung gegen die Corona-Pandemie durchzusetzen. Doch in Verbindung mit der Ermordung Samuel Patys entstand schließlich doch eine Dynamik, die das Thema Islamismus  zurück in den Fokus gebracht und Deutschland zudem eine erneute Abschiebedebatte beschert hat.

„Bedrohungslage auf hohem Niveau“

Vor allem auf der politischen Linken dämmert es nun einigen, daß sich die Gefahr durch den politischen Islam nicht länger mit Verweis auf die Bedrohung durch den Rechtsextremismus wegschieben läßt. „Insbesondere die politische Linke sollte ihr unangenehm auffälliges Schweigen beenden. Nicht, weil sie von rechts mit durchschaubaren Argumenten dafür kritisiert wird. Sie muß das Wort erheben, weil es auch und insbesondere ihre proklamierten Werte sind, die bei ausnahmslos jedem Terroranschlag mit Füßen getreten, mit Messern erdolcht und mit Sprengsätzen in die Luft gejagt werden“, schrieb ausgerechnet Juso-Chef Kevin Kühnert als Reaktion auf den Mord an Paty. „Will die politische Linke den Kampf gegen den Islamismus also nicht länger Rassisten und halbseidenen Hobbyislamforschern überlassen, dann muß sie sich endlich gründlich mit dieser Ideologie als ihrem wohl blindesten Fleck beschäftigen“, lautet seine Schlußfolgerung.

Kühnerts Vorstoß, mit dem er auch in den eigenen Reihen für Aufsehen sorgte, kommt nicht von ungefähr. Experten fürchten, daß aus der in den vergangenen Jahren zahlenmäßig rasant gewachsenen islamistischen Szene in Deutschland Nachahmungstäter, sogenannte einsame Wölfe, hervorgehen könnten. Mit Sorge sehen die Sicherheitsbehörden daher, daß der Mörder im Internet von jungen Muslimen gefeiert wird. „Darf ich vorstellen: der Löwe aus Frankreich“, schrieb beispielsweise ein deutscher Nutzer beim Nachrichtendienst Telegram, berichtet der Tagesspiegel. Nichts anderes als die Ehre des Propheten Mohammed „bewegte sein eifersüchtiges Herz“, postete ein anderer Muslim bei Telegram, „möge Allah dich zu seinen Shuhada (Märtyrer) zählen. Wahrlich bist du zu beneiden für deine Tatkräftigkeit.“

Zudem rücken auch in Deutschland Lehrer und angeblich „unislamische“ Lehrinhalte an den Schulen zunehmend in den Blick von Extremisten und durch sie beeinflußte Jugendliche, warnt der Demokratiepädagoge Kurt Edel. Schon lange gebe es auch bei uns die Weigerung von Jugendlichen, sich mit bestimmtem Unterrichtsmaterial zu beschäftigen, das aus ihrer Sicht ihren religiösen Geboten zuwiderläuft. „Das geht von Biologie bis Geschichte und betrifft wissenschaftliche Welterklärungen wie den Darwinismus, Theorien der Erdgeschichte oder auch die Abbildung Gottes. Das kommt von Jugendlichen aus islamistischen, aber auch christlich-fundamentalistischen Familien, die ihre Kinder gegen die aufgeklärte demokratische Schule in Stellung bringen wollen“, sagt Edel in der Welt und warnt davor, diesen Gruppen an den Schulen Sonderrechte einzuräumen.

Doch wie groß ist die Gefahr von Nachahmungstätern tatsächlich? Einige Experten sehen Anzeichen dafür, daß die islamistische Szene in Deutschland, die vor allem während des Siegeszugs des IS in Syrien und dem Irak einen rasanten Aufschwung erlebt hatte, ihren Zenit bereits wieder überschritten habe (siehe Graphik). So zählten die Behörden noch 2011 allein rund 3.800 Salafisten, dagegen waren es 2019 zwar bereits 12.000, doch habe sich das Wachstum deutlich verlangsamt. Zurückgegangen ist die Zahl der islamistischen Gefährder, also jener Personen, denen die Sicherheitsbehörden jederzeit schwere Straftaten wie beispielsweise Anschläge zutrauen. Derzeit gelten in Deutschland 630 Islamisten als Gefährder, wobei ein Viertel von ihnen bereits in Haft sitzt. Vor einem Jahr lag die Zahl noch um zehn Prozent höher.

Doch weder der Verfassungsschutz noch die Islamismusexpertin und Leiterin der Beratungsstelle „Hayat“ (Leben), Claudia Dantschke, signalisieren Entwarnung. Die Ursachen für Radikalisierung verschwinden nicht. „Es gibt Jugendliche, die kommen aus sehr autoritären Familien und haben keinen Freiraum“, sagte Dantschke dem Tagesspiegel. „Und es gibt die Jugendlichen aus eher losen Familien, wo der Halt fehlt.“ Die Jungen und Mädchen aus beiden Familientypen „suchen jemanden, der sie wahrnimmt, der sie ernst nimmt, der ihnen eine Lebensperspektive bietet“. Sie habe die Erfahrung gemacht, „die sind nicht auf der Suche nach dem Islam, die sind auf der Suche nach Orientierung, nach Aufmerksamkeit“. Und landeten bei den Salafisten, sagt Dantschke.

Bei der Vorstellung des aktuellen Berichts seiner Behörde hatte Verfassungsschutzchef Thomas Haldenwang gewarnt: „Auch wenn islamistisch motivierte Anschläge und Anschlagsvorhaben in Deutschland und Europa insgesamt rückläufig und deshalb für manche in den Hintergrund getreten sind, bleibt die Bedrohungslage für Deutschland auf einem hohen Niveau angespannt.“

Und noch eine Zahl spricht gegen eine Entwarnung: Der Syrer, der Anfang Oktober in Dresden offenbar aus schwulenfeindlichen Motiven den Mann aus Krefeld erstochen und dessen Lebensgefährten schwer verletzt hat, wurde von den Sicherheitsbehörden als Gefährder geführt und stand seit seiner Haftentlassung fünf Tage vor der Tat zumindest zeitweise unter Beobachtung der Polizei. Auch jenseits des islamistischen Motivs belegt der Täter einen statistischen Trend: Wie aus der Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage der AfD-Bundestagsfraktion hervorgeht, stammen bei Gewaltdelikten 12,2 Prozent aller nichtdeutschen Tatverdächtigen aus Syrien, bei Morden sind es 10 Prozent, bei Raubdelikten 11,7 und bei schwerer und gefährlicher Körperverletzung 12,6 Prozent. 

Kein Wunder, daß der Sinn eines pauschalen Abschiebestopps in das Land mittlerweile selbst von Politikern der Regierungskoalition angezweifelt wird. Dieser Stopp sollte, „wenn irgend möglich, aufgehoben werden“, verlangte etwa der innenpolitische Sprecher der Unionsfraktion, Mathias Middelberg (CDU). Und erntete prompt Widerspruch aus der SPD. Abschiebungen nach Syrien seien „weiterhin nicht vertretbar“, so deren innenpolitische Sprecherin, Ute Vogt.