© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 45/20 / 30. Oktober 2020

Die Krise legt politische Versäumnisse offen
Wirtschaftsliteratur: Hans-Werner Sinn analysiert den „Corona-Schock“ / Warnung vor einer unkontrollierten Schuldenfalle und fragwürdigen EU-Projekten
Dietrich Vogt

Mit seinem Buch „Ist Deutschland noch zu retten?“ lieferte er eine Blaupause für die rot-grüne „Agenda 2010“. „Das grüne Paradoxon“ nahm die Illusionen in der Klimapolitik aufs Korn. In „Der Kasino-Kapitalismus“ rechnete der erklärte Marktwirtschaftler 2009 mit den haftungsfreien Finanzmarktakteuren und ihren politischen Helfershelfern ab. Anläßlich der Eurokrise warnte er 2012 vor der „Target-Falle“ im EZB-System. „Der Schwarze Juni“ analysierte vor vier Jahren den Brexit, die Flüchtlingswelle und das Euro-Desaster.

Und Hans-Werner Sinn, bis 2016 Präsident des Münchner Ifo-Instituts für Wirtschaftsforschung und seit 2017 Gastprofessor an der Universität Luzern, bleibt auch mit inzwischen 72 Jahren weiter präsent. Mit seinem neuesten Buch „Der Corona-Schock“ liefert der vielzitierte Wirtschaftswissenschaftler eine Generalabrechnung mit den politischen Akteuren. Sars-CoV-2 und die Covid-19-Erkrankung haben einen exogenen Schock ausgelöst, ein von außen einwirkendes Ereignis mit folgenschweren ökonomischen Wirkungen.

Jedoch sei es falsch, die Corona-Krise als eine singuläre Krise darzustellen, deren wirtschaftlichen Folgen mit außergewöhnlichen Maßnahmen zu begegnen sei: Fiskalisch soll ein kreditfinanzierter 750 Milliarden Euro schwerer EU-Wiederaufbaufonds installiert werden, der die Bindung an Reformen aufhebt, Kontrollen faktisch vermeidet und den Staaten eine beliebige Verwendung oder gar Verschwendung der Mittel überläßt – eine Umwandlung der föderalen EU in eine Fiskalunion mit Transfercharakter.

Unter dem Mantel der Geldpolitik lockert die EZB des weiteren die Bedingungen, unter denen Staaten ihre Schulden bei ihr abladen und Banken sich bei ihr verschulden können – im Ergebnis sowohl eine Staaten- wie auch eine Bankenrettung, die in Wahrheit eine Gläubigerrettung darstelle: So würden derzeit vornehmlich Banken und italienische Privatpersonen profitieren, die italienische Staatspapiere gekauft hätten. Bei quasi monetärer Staatsverschuldung würde die EZB zudem nicht nur ihr geldpolitisches Mandat übersteigen, sondern auch ihre geldpolitische Steuerungsfähigkeit verlieren.

Sinns zentrale These lautet: Das Coronavirus legt politische Versäumnisse offen, die über ein Jahrzehnt angelegt waren: die Instabilitäten des Finanzsektors bei unzureichenden Vorkehrungen gegen zukünftige Krisen; ein Fortgang der Euro-Staatsschuldenkrise bei wirkungslosen Kreditbegrenzungen; eine Klima- und Umweltkrise, auf die mit unwirksamen, aber sehr teuren nationalen Maßnahmen wie dem Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG) reagiert wurde; eine industriepolitische Krise infolge einer politisch gesteuerten Umwandlung des Automobilsektors zur E-Mobilität.

Wie üblich kenntnisreich, anschaulich und in verständlicher Form vermittelt Sinn die europäische Schuldensozialisierung, die in den Kürzeln Anfa, Ela, Target, PSPP, PEPP und NGEU verborgen liegt. Dem von Finanzminister Olaf Scholz (SPD) zur Rechtfertigung einer europäischen Schuldenvergemeinschaftung ins Spiel gebrachte Hamilton-Moment stellt er lehrreich die wahre Geschichte gegenüber: Der Übernahme von Schulden der Einzelstaaten der USA durch den Bundesstaat 1790 folgte eine unkontrollierte Schuldenfalle aus Vergemeinschaftung und unrentablen Projekten. Sie endete 1830 in einer Folge von Staats- und Privatkonkursen.

Auf der Grundlage eines mit seinem Herder-Lektor geführten Interviews sind kurze Abschnitte zu einzelnen Fragestellungen entstanden. Assoziative Sprünge, Redundanzen – wie im Gespräch üblich – ließen sich so nicht vermeiden. Allerdings leidet die Systematik eines roten Fadens dadurch ein wenig. Das Buch ist für ein breites Publikum geschrieben: Themen werden auf wenigen Seiten abgehandelt, auf analytische Tiefe wird zugunsten verständlich-prägnanten Aussagen verzichtet.Wohl auch den Fragen ist es geschuldet, daß sich Sinn als ausgewiesener Ökonom zum virologisch-epidemischen Geschehen und möglichen Bekämpfungsstrategien wertend äußert. Fazit: Ein Buch, das leider nicht vollständig in der bewährten Tradition der früheren Sinn-Werke steht.

Hans-Werner Sinn: Der Corona-Schock – Wie die Wirtschaft überlebt. Verlag Herder, Freiburg im Breisgau 2020, gebunden, 224 Seiten, 18 Euro

 www.unilu.ch

 www.hanswernersinn.de