© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 45/20 / 30. Oktober 2020

Kleists biopolitisch unkorrekte Freiheitsphantasien
Konstruierte Franzosenfeinde
(wm)

Kurz vor seinem Tod stand Thomas Mann nicht an, Heinrich von Kleist (1777–1811) als einen der „größten Dichter deutscher Sprache“ zu rühmen. „Völlig einmalig“ sei er gewesen, „aus aller Hergebrachtheit und Ordnung fallend, radikal in der Hingabe an seine exzentrischen Stoffe bis zur Tollheit, bis zur Hysterie“. Mit dieser Begeisterung für den dezidiert deutschen Sprachkünstler Kleist erwies Thomas Mann dem in den 1950ern noch selbstverständlichen bildungsbürgerlichen Kanon Reverenz. Ob Kleist als Dramatiker, Erzähler und politischer Publizist heute noch ähnliche Wertschätzung genießt, ist zu bezweifeln. Völlig außer Frage steht aber, daß sein Ansehen bei Germanisten gerade wegen seiner einst so exponierten Deutschheit stark gelitten hat. Und zwar in dem Maß, wie sie die Kleist-Rezeption während der NS-Zeit unter die literaturhistorische Lupe genommen haben. Zwischen 1933 und 1945 war sein Drama „Die Hermannsschlacht“, das den erfolgreichen Aufstand der Germanen gegen die römischen Okkupanten in Szene setzt, das am meisten gespielte Bühnenstück, und sein militanter „Michael Kohlhaas“, so fand die Forschung heraus, avancierte zur Identifikationsfigur für den Widerstand gegen das Unrecht des Versailler Diktats. Als noch verwerflicher wertet Timo Schummers (Koblenz), daß Kleist überhaupt der „biopolitisch“ fundierten Idee vom nicht fremdbestimmten „Volk“ anhing, das sich seit 1807 nicht etwa gegen die real anwesende napoleonische Besatzungsmacht wehrte, sondern sich erdreistete, „starken Haß“ gegen die lediglich als „Feindbild konstruierten Franzosen“ zu empfinden (Wirkendes Wort, 1/2020). 


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